Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Sekunden.
Alles versank wieder in tiefe Stille; weder auf der Straße noch im Garten irgendein Geräusch.
Noch immer das Rätsel
Der Morgenwind setzte ein. Jean Valjean schloß daraus, daß es gegen ein oder zwei Uhr sein mochte. Cosette war still. Da sie neben ihm saß und den Kopf an seine Brust gelehnt hatte, dachte er, sie sei eingeschlafen. Er beugte sich über sie und sah sie an. Ihre Augen standen weit offen, sie schien nachzudenken.
Immer noch zitterte sie.
»Möchtest du schlafen?«
»Mir ist so kalt!« antwortete sie. »Ist sie denn noch immer da?«
»Wer?«
»Frau Thénardier.«
Jean Valjean hatte längst vergessen, welchen Mittels er sich bedient hatte, um Cosette schweigen zu machen.
»Ach, die ist fort! Fürchte dich nicht weiter.«
Das Kind seufzte, als ob ihm eine große Last von der Brust genommen würde.
Der Boden war feucht, der Schuppen nach allen Seiten offen, der Wind von Augenblick zu Augenblick frostiger. Jetzt zog Jean Valjean seinen Rock aus und hüllte Cosette darein.
»Ist dir jetzt weniger kalt?«
»Ja, Vater.«
»Gut, dann warte einen Augenblick. Ich komme gleich wieder.«
Er trat aus der Ruine und begann an dem Hauptgebäude entlang zu gehen, um einen besseren Unterschlupf ausfindig zu machen. Er stieß auf Türen, aber sie waren versperrt. Die Fenster im Erdgeschoß waren mit Eisengittern versehen.
Als er den inneren Winkel des Gebäudes erreichte, bemerkte er einige Bogenfenster, die schwach erleuchtet waren. Er hob sich auf die Zehenspitzen und sah hindurch. Das Fenster führte zu einem großen, mit mächtigen Steinfliesen gepflasterten Saal, der durch Arkaden und Säulen geteilt schien. Das Licht kam von einer kleinen Lampe, die in einer Ecke brannte. Nichts in dem Saal rührte sich. Doch glaubte er, wenn er seine Augen schärfer anstrengte, auf dem Boden etwas zu bemerken, einen Gegenstand, der mit einem Laken bedeckt war und die Form eines menschlichen Körpers andeutete. Diese Gestalt lag mit dem Gesicht gegen den Boden, die Arme kreuzweise ausgestreckt, reglos wie ein Leichnam. Etwas neben ihr sah wie eine Schlange aus, offenbar ein Strick, den jene unheimliche Gestalt um den Hals trug.
In dem ganzen Saal schwebten die Schauer des Halbdunkels.
Jean Valjean hat später oft gesagt, daß ihm in seinem Leben manches Schauerliche widerfahren sei, nie aber habe etwas sein Blut so sehr zu Eis erstarren lassen wie diese rätselhafte Gestalt, die im Dunkel der Nacht ein unbekanntes Mysterium vollzog. Furchtbar war ihm die Vorstellung, dies sei eine Tote, schrecklicher noch aber der Gedanke, daß dort ein lebendiges Wesen liege.
Er hatte immerhin den Mut, die Stirn gegen die Fensterscheibe zu pressen und zu beobachten, ob die Gestalt sich bewegte. Ihm schien eine beträchtliche Zeit verflossen, als er noch immer nicht die leiseste Bewegung bemerkt hatte. Plötzlich packte ihn ein unaussprechliches Grauen, und er entfloh. Ohne sich umzuschauen, lief er in den Schuppen. Wenn er sich umsähe, würde er – davon war er überzeugt – die Gestalt hochaufgerichtet, mit den Armen schlenkernd, einherschreiten sehen.
Keuchend erreichte er die Ruine. Seine Knie schlotterten, Schweiß perlte von seinem Körper.
Wo befand er sich? Wer hätte sich je vorstellen mögen, daß es inmitten von Paris eine derartige Grabstätte gab? Und was bedeutete dieses seltsame Haus, dieser Bau voll nächtlicher Geheimnisse, der in der Dunkelheit verängstigte Seelen mit Engelsstimmen an sich lockte und ihnen, wenn sie näher traten, die furchtbare Vision einer Gruft vorhielt? Und doch war dies ein Haus, das auf der Straße eine gewöhnliche Nummer führte! Kein Traum …
Er mußte die Wand berühren, um sich davon zu überzeugen.
Wieder beugte er sich über Cosette. Sie schlief.
Immer rätselhafter
Das Kind hatte den Kopf auf einen Stein gelegt und war eingeschlafen. Er setzte sich neben sie und begann sie anzuschauen. Je länger er sie betrachtete, um so ruhiger wurde er. Bald war er wieder im Besitz seines kühlen Geistes. Er begriff, daß von nun an dieses Geschöpf der Sinn seines Lebens war. Er brauchte nichts, was nicht ihr Bedarf war, hatte nichts zu fürchten, was nicht ihr drohte.
Während er so nachsann, hörte er zuweilen ein seltsames Geräusch. Es war das Geklingel einer kleinen Glocke und kam aus dem Garten. Man konnte es schwach, aber deutlich erkennen. Es erinnerte an das Schellen der Glocken einer Herde auf nächtlicher Heide.
Jetzt wandte sich Jean Valjean um. Sofort
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