Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Zähne, zog seine Schuhe und Strümpfe ab, warf sie über die Mauer und begann mit der Sicherheit eines Mannes, der eine Leiter ersteigt, die Mauer zu erklimmen. Nach einer knappen halben Minute kniete er auf der Mauerbrüstung.
Wortlos sah ihm Cosette zu. Jean Valjeans Rat und der Name der Thénardier hatten sie zu Eis erstarren lassen.
Jetzt hörte sie ihn leisen rufen:
»Lehne dich an die Mauer!«
Sie gehorchte.
»Sag kein Wort und fürchte dich nicht!«
Gleich darauf fühlte sie, daß sie hochgehoben wurde. Bevor sie begriff, was mit ihr geschah, war sie auf dem Gipfel der Mauer. Jean Valjean ergriff sie, nahm sie auf den Rücken, legte sich platt auf den Bauch und kroch an der Brüstung entlang. Wie er erraten hatte, stieß die Mauer hier an ein Gebäude, dessen Dach schräg abfiel und die Linde fast streifte.
Die Situation war für ihn sehr günstig. Gegen den Garten zu reichte das Dach viel tiefer hinab als straßenwärts.
Im selben Augenblick ließ ihn Lärm auf der Straße erraten, daß die Patrouille angekommen war.
»Sucht die Sackgasse ab!« befahl Javert. »Die Rue Droit-Mur und die kleine Rue Picpus sind bewacht. Ich bürge dafür, daß er in der Sackgasse ist.«
Die Soldaten machten sich auf die Suche.
Jean Valjean aber ließ sich an dem Dach hinabgleiten, bekam die Linde zu fassen, kletterte ein letztes Stück und sprang zu Boden. Cosette hatte aus Mut oder Angst nicht einmal laut zu atmen gewagt. Ihre Hände waren ein wenig zerschunden.
Anfang eines Rätsels
Jean Valjean befand sich in einem geräumigen, recht eigenartigen Garten; einem jener traurigen Gärten, die für den Winter und die Nacht bestimmt zu sein scheinen. Er war rechteckig und endete in einer Pappelallee; auch in allen Winkeln standen Bäume, die Mitte aber war schattenlos; hier konnte man einen vereinzelten sehrhohen Baum, einige verkrüppelte Obstbäume, Beete und eine alte Senkgrube erkennen. Hier und da waren von Moos bewachsene Steinbänke zu sehen.
Zur Seite hatte Jean Valjean das Gebäude, von dessen Dach er abgestiegen war; an der Mauer stand eine Statue, deren arg verstümmeltes Gesicht in der Dunkelheit kaum erkennbar war.
Das Haus glich eher einer Ruine, doch schienen einzelne Räume noch als Schuppen benützt zu werden.
Das Hauptgebäude in der Rue Droit-Mur machte um die Ecke der Rue Picpus einen Bogen und bildete somit einen rechten Winkel zum Garten. Alle Fenster waren vergittert; nirgends war Licht zu sehen. Auch war von einem anderen Gebäude nichts zu bemerken. Der Garten verlor sich in Finsternis und Nacht. Nur ganz undeutlich waren Mauerstücke zu erkennen – vielleicht die niedrigen Dächer der Rue Polonceau.
Nichts Wilderes, Einsameres konnte man sich vorstellen als diesen Garten. Daß sich hier niemand aufhielt, war zu dieser Stunde weniger erstaunlich, aber es war kaum anzunehmen, daß auch zur Mittagszeit hier jemand einen angenehmen Aufenthalt finden könnte.
Jean Valjeans erste Sorge war, seine Schuhe wieder zu suchen und wieder anzuziehen. Dann brachte er Cosette in den Schuppen. Wer eben seinen Verfolgern entschlüpft ist, fühlt sich nirgends sicher genug. Cosette, die noch immer an die Thénardier dachte, wünschte gleichfalls nichts Besseres als ein möglichst sicheres Versteck.
Zuerst hörte man von draußen Lärm und Rufe. Nach einer Viertelstunde aber schien sich die Truppe der Verfolger zu entfernen. Jean Valjean atmete noch immer kaum. Er hatte sanft seine Hand auf Cosettes Mund gelegt.
Plötzlich wurde aus der tiefen Stille des Gebäudes ein anderes Geräusch hörbar, ein Gesang, der ebenso himmlisch und göttlich klang wie eben erst der Straßenlärm entsetzlich. Es war eine Hymne, ein Gebet, das in die schweigende Nacht aufstieg; Valjean glaubte Frauenstimmen zu erkennen, aber Stimmen, die zugleich von Jungfrauen und von Kindern herzurühren schienen. Unverkennbar klangen sie aus dem Gebäude neben dem Garten herüber. Es war, als ob nach der Hexenmusik der Dämonen ein Chor der Engel erklingen sollte.
Cosette und Jean Valjean knieten nieder.
Sie wußten nicht, wo sie sich befanden, aber sie fühlten, der Mann und das Kind, der Büßer und die Unschuldige, daß sie niederknien mußten.
Der Gesang klang wie übernatürliche Musik in einem unbewohnten Gebäude. Solange er anhielt, dachte Jean Valjean an nichts anderes. Erst als er verstummte, schien er zu erwachen. Wie lange das gedauert haben mochte, hätte er nicht angeben können. Die Stunden der Verzückung sind
Weitere Kostenlose Bücher