Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
hochgewachsene Leute in langen braunen Röcken, mit runden Hüten und Knütteln in der Faust. Ihre Größe war nicht minder unheimlich wie die Art, in dersie sich im Dunkeln vorwärts bewegten. Man hätte sie für vier Gespenster halten können, die sich als Bürger verkleidet hatten.
Inmitten der Wegkreuzung blieben sie stehen und schienen zu beraten. Sie sahen unentschlossen aus. Jener, der sie zu führen schien, deutete mit der Rechten nach der Richtung, in der Jean Valjean weitergegangen war; ein anderer schien nach der entgegengesetzten Seite gehen zu wollen. In dem Augenblick, als der erstere sich umwandte, fiel das Mondlicht voll auf sein Gesicht. Jean Valjean erkannte deutlich Javert.
Glücklicherweise fahren auf der Austerlitzer Brücke Wagen
Jetzt war für Jean Valjean alles klar. Für jene Männer allerdings dauerte die Ungewißheit noch an. Er machte sich also ihr Zögern zunutze, denn was jene an Zeit verloren, konnte er als Gewinn buchen. Er trat aus dem Haustor, in dem er sich verborgen hatte, und eilte in Richtung Jardin des Plantes weiter. Cosette begann zu ermüden, er hob sie auf und trug sie. Nächtliche Spaziergänger waren nicht zu sehen, die Laternen hatte man wegen des Mondscheins nicht angezündet.
An der Rue de la Clef und dem Jardin des Plantes vorbei kam er zum Quai. Hier wandte er sich um. Weit und breit kein Mensch. Auch in den Seitenstraßen war niemand zu entdecken. Er atmete auf.
Jetzt ging er auf den Pont d’Austerlitz zu. Damals gab es dort noch einen Wächter, der Mautgeld erhob. Er näherte sich dem Mann und reichte ihm einen Sou.
»Zwei Sous!« sagte der Invalide, der den Dienst versah, »Sie tragen ein Kind, das gehen kann. Sie müssen für zwei zahlen.«
Es war ärgerlich, daß sein Übergang über die Brücke Gegenstand einer Erörterung geworden war. Valjean bezahlte. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn seine Flucht glatter vonstatten gegangen wäre.
Gleichzeitig mit ihm fuhr ein großer Lastwagen zum rechten Ufer hinüber. Das war günstig. Er konnte im Schatten der Fuhre gehen.
Mitten auf der Brücke begehrte Cosette, deren Füße erstarrt waren, zu gehen. Er setzte sie zu Boden und nahm sie an die Hand.
Sobald er die Brücke überschritten hatte, bemerkte er zur Rechten einige Lagerplätze. Um dahin zu gelangen, mußte er einen breiten, hell vom Mond beleuchteten Raum überschreiten. Er zögerte nicht. Seine Verfolger waren offenbar einer falschen Spur gefolgt. Jean Valjean glaubte sich außer Gefahr. Er wurde gesucht, aber nicht verfolgt. Eine kleine Gasse, die Rue du Chemin-Vert-Saint-Antoine, zog sich zwischen hohen Mauern dahin. Ein dunkler, enger Weg, wie für ihn geschaffen. Bevor er eintrat, blickte er sich um. Er konnte von seinem Standplatz aus die Austerlitzer Brücke in ihrer ganzen Länge überschauen. Eben tauchten am anderen Ende der Brücke vier Schatten auf. Sie kamen vom Jardin des Plantes herüber und wollten offenbar das rechte Ufer erreichen.
Vier Schatten – vier Männer! Jean Valjean erschauerte. Die Spürhunde hatten das Wild wieder aufgescheucht. Aber noch blieb eine Hoffnung. Vielleicht hatten die vier Männer ihn nicht gesehen, als er mit Cosette den hellen Platz überschritten hatte. Er brauchte nur in die kleine Straße einzubiegen, bis zu den Lagerplätzen vorzustoßen und zwischen den Gemüsefeldern und Schutthalden zu verschwinden.
Ihm schien, man könne sich dieser kleinen stillen Straße anvertrauen.
Umhertasten
Nach ungefähr dreihundert Schritten kam er an eine Stelle, wo die Straße sich gabelte. Er hatte vor sich gewissermaßen die beiden Zweige eines Y.
Wohin sollte er sich wenden? Er zögerte nicht, sondern bog rechts ab.
Warum?
Links mußte er in die Vorstadt gelangen, also in bewohntes Gebiet, rechts aber auf unbebautes Land, in eine verlassene Öde. Doch gingen die beiden nicht mehr besonders schnell. Cosettes kurze Schritte verzögerten Jean Valjeans Gang. Er mußte sie wieder aufnehmen. Sie legte den Kopf an seine Schulter und schwieg.
Von Zeit zu Zeit kehrte er sich um und hielt Ausschau. Immer war er bestrebt, sich auf der dunklen Seite der Straße zu halten. Als er sich die ersten Male umwandte, sah er nichts; ringsum war tiefes Schweigen. Schon fühlte er sich etwas sicherer. Plötzlich bemerkteer, daß sich nicht weit hinter ihm etwas bewegte. Jetzt begann er zu laufen, hoffte, eine Querstraße zu erreichen und dort die Spur fälschen zu können.
Er erreichte eine Mauer. Doch war der Weg nicht vollends
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