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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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Rechten und Linken des Leichenwagens. Ganz zum Schluß kam ein alter Mann im Arbeitskittel, der hinkte. Dieser ganze Zug strebte dem Friedhof Vaugirard zu.
    Aus der Tasche des Arbeiters ragten ein Hammer, ein Stemmeisen und eine Zange hervor.
    Der Friedhof Vaugirard nimmt unter den Friedhöfen von Paris eine Sonderstellung ein. Er hat seine eigentümlichen Gebräuche, zum Beispiel ein besonderes Tor für Wagen und eines für Fußgänger. Die Bernhardinerbenediktinerinnen von Petit-Picpus hatten, wie wir bereits sagten, die Erlaubnis erwirkt, in einer besonderen Ecke bestattet zu werden – dieses Terrain gehörte ganz ihrer Gemeinde. Die Totengräber hatten, da hier auch des Abends Beerdigungen stattfanden, im Sommer spätabends und im Winter sogar des Nachts Dienst und mußten sich einem besonderen Reglement unterwerfen. Die Tore der Friedhöfe von Paris wurden damals mit Sonnenuntergang geschlossen. Das war eine Verordnung des Magistrats, der sich auch der Friedhof Vaugirard nicht widersetzen konnte. Die beiden Tore waren vergittert und lagen neben einem Pavillon, den der Friedhofspförtner bewohnte. Mit unerbittlicher Strenge wurden sie abgeriegelt, sobald die Sonne hinter dem Dôme des Invalides verschwand. Wenn ein Totengräber den Friedhof um diese Zeit noch nicht verlassen hatte, so gab es für ihn nur eine Möglichkeit wieder herauszukommen: seinen Totengräberausweis. Eine Art Briefkasten war am Fenster der Pförtnerwohnung angebracht. Der Totengräber warf die Karte hinein, und der Pförtner, der sie herabfallen hörte, zog an der Schnur, so daß das Fußgängertor sich öffnete. Hatte der Totengräber seine Karte nicht bei sich, so mußte er seinen Namen nennen. Der Pförtner, der oft schon im Bett lag, stand auf, um ihn festzustellen, und öffnete die Tür mit dem Schlüssel. So konnte der Totengräber heraus, mußte aber fünfzehn Franken Strafe zahlen.
    Die Sonne war noch nicht untergegangen, als der Leichenwagen in die Straße des Friedhofs Vaugirard einbog.
    Mutter Crucifixions Beerdigung unter dem Hauptaltar, Cosettes Wegschaffen aus dem Kloster, Jean Valjeans Einschmuggelung in den Totensaal und in den Sarg – alles war gelungen.
    Fauchelevent spazierte sehr zufrieden hinter dem Leichenwagen einher. Sein Doppelkomplott, das eine zugunsten der Nonnen, dasandere zugunsten Madeleines, eines für und eines wider das Kloster, war bis jetzt geglückt. Jean Valjean war so ruhig gewesen, daß seine Ruhe sich auch dem andern mitteilte. Jetzt zweifelte Fauchelevent nicht mehr an dem Erfolg. Was noch zu tun blieb, war eine Kleinigkeit. Im Laufe der letzten zwei Jahre hatte er den Totengräber, den wackeren Vater Mestienne, zehnmal unter den Tisch getrunken. Der Mestienne war leicht zu behandeln. Mit dem konnte man machen, was man wollte. Den konnte man striegeln, wie es einem beliebte. Mestiennes Kopf richtete sich ganz nach Fauchelevents Kappe.
    Der Gärtner war, wie man sieht, seiner Sache sicher.
    Als der Leichenzug in die Friedhofsstraße einbog, rieb Fauchelevent sich vergnügt die Hände und sagte leise:
    »Ein Mordsspaß!«
    Plötzlich hielt der Wagen.
    Man hatte das Gitter erreicht. Jetzt mußte die Erlaubnis zur Beerdigung vorgewiesen werden. Der Mann von der Leichenbestattung verhandelte mit dem Friedhofspförtner. Während dieser Unterredung, die immer ein oder zwei Minuten in Anspruch nahm, trat ein Unbekannter neben Fauchelevent. Es war wohl ein Arbeiter, er trug eine Joppe mit breiten Taschen und eine Schaufel.
    Fauchelevent sah ihn an.
    »Wer sind denn Sie?« fragte er.
    »Der Totengräber.«
    Ein Kanonenschuß hätte Fauchelevent nicht mehr erschrecken können. Wer eine Kanonenkugel mitten in die Brust bekommt und dann noch lebt, schneidet sicher kein anderes Gesicht.
    »Der Totengräber?«
    »Ja.«
    »Sie?«
    »Ich.«
    »Totengräber ist doch Vater Mestienne.«
    »War.«
    »Wieso war?«
    »Er ist tot.«
    Fauchelevent war auf alles gefaßt, nur nicht darauf, daß ein Totengräber sterben könne. Und doch ist es wahr, auch die Totengräber sterben. Bei der großen Gräberei graben sie schließlich auch sich ein Grab.
    Fauchelevent stand mit offenem Munde da. Stotternd sagte er:
    »Unmöglich!«
    »Aber wahr.«
    »Aber der Totengräber ist doch Vater Mestienne«, versuchte er noch einmal schwach.
    »Nach Napoléon Ludwig XVIII. Nach Mestienne Gribier. Bauer, ich heiße Gribier.«
    Totenblaß starrte Fauchelevent Gribier an.
    Es war ein langer, magerer, blasser, finsterer Mensch. Er sah aus wie

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