Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
dem herrlichsten Teil der Geschichte, der je von Menschen erlebt worden ist, ein Mann, der ein Vierteljahrhundert im Feldlager zugebracht hat, sich bei Tag dem Feuer der Gewehre und Kanonen, des Nachts dem Regen, Sturm und Schnee ausgesetzt hat, der zwei Fahnen eroberte, zwanzigmal verwundet wurde und elend und verlassen starb und der nur einen einzigen Fehler beging, nämlich den, zwei Undankbare allzusehr zu lieben, sein Land und seinen Sohn.«
Das war mehr, als Gillenormand ertragen konnte. Bei dem Wort Republik war er aufgestanden oder, besser gesagt, aufgefahren. Jedes Wort Marius’ übte auf das Gesicht dieses alten Royalisten dieselbe Wirkung aus wie ein Blasebalg auf glühende Kohlen. Er war purpurrot geworden.
»Marius«, brüllte er, »abscheulicher Junge, ich weiß nicht, wer dein Vater war, und ich will es nicht wissen! Nichts weiß ich, gar nichts, aber eins weiß ich, daß alle diese Kerle nur Schurken waren! Alle zusammen nur Bettler, Mörder, verfluchte Rotmützen, Diebsgesindel! Alle, sage ich, alle! Verstehst du? Du bist als Baron nicht mehr als mein Pantoffel! Alle waren sie Banditen, diese Schufte, die dem Robespierre dienten, alle Verräter, Verräter an ihrem rechtmäßigen König. Feiglinge, die vor den Preußen und Engländern in Waterloo davongerannt sind! Das weiß ich. Wenn dein Herr Vater einer von denen war, so will ich nichts davon wissen, und es ist schlimm genug.«
Jetzt war Marius Feuer und Gillenormand Blasebalg.
Der Junge zitterte an allen Gliedern, seine Stirn brannte. Endlich hob er die Augen, sah seinem Großvater starr ins Gesicht und brüllte:
»Nieder mit den Bourbons, nieder mit diesem fetten Schwein Ludwig XVIII.!«
Ludwig XVIII. war in diesem Augenblick bereits vier Jahre tot, aber das war ja gleichgültig.
Der Greis wurde jetzt ebenso weiß wie seine Haare. Zweimal ging er langsam und schweigend vom Kamin bis zum Fenster, so schwer, daß die Dielen krachten, wie eine Statue aus Stein. Jetzt neigte er sich zu seiner Tochter herab, die verschüchtert wie ein altes Schaf dasaß, und sagte mit einem fast ruhigen Lächeln:
»Ein Baron wie der Herr und ein Bürger wie ich können nicht unter dem gleichen Dach leben.«
Gleich darauf fuhr er wieder hoch und schrie, den Arm ausstreckend:
»Raus!«
Marius verließ das Haus.
Am nächsten Tage sagte Gillenormand zu seiner Tochter:
»Du schickst diesem Blutsauger halbjährlich sechzig Pistolen und sprichst niemals von ihm.«
Drittes Buch
Die Freunde des ABC
Anwärter auf die Weltgeschichte
Jene Zeit war nur scheinbar apathisch. Überall regten sich revolutionäre Instinkte. Der Geist von neunundachtzig und zweiundneunzig war wieder in der Luft. In der Jugend regte es sich. Ohne es selbst zu merken, folgten die Menschen dem Drang der Zeit, eine Wandlung vollzog sich in ihnen. Der Uhrzeiger, der unaufhaltsam vorschreitet, bewegte sich auch in den Seelen. Jeder tat seinen Schritt vorwärts, die Royalisten wurden liberal, die Liberalen Demokraten.
Es gab damals in Frankreich noch nicht jene gewaltigen Geheimorganisationen wie den Tugendbund in Deutschland und die Carbonari in Italien; aber im Dunkel rührte es sich bereits. Die Cougourd wurde in Aix gegründet; in Paris gab es unter anderen ähnlichen Bruderschaften dieser Art die Gesellschaft der Freunde des ABC.
Wer waren diese ABC-Leute? Eine Gesellschaft, die es sich angeblich zum Ziele gesetzt hatte, für die Kindererziehung zu wirken, in Wirklichkeit aber die Erweckung der Erwachsenen betrieb. Es waren ihrer nicht viele; eine Geheimgesellschaft, gewissermaßen noch im Embryonalzustand. In Paris hatte sie zwei Versammlungslokale, bei den Halles, eine Kneipe namens Corinthe, am Panthéon ein kleines Café, das Café Musain; Corinthe war das Versammlungslokal der Arbeiter, Café Musain das der Studenten.
Die regelmäßigen Zusammenkünfte der Freunde des ABC fanden in einem Hinterzimmer des Café Musain statt. Dieser Raum lag ziemlich abseits und wurde nur durch einen langen Gang mit zwei Fenstern und einem Seitenausgang nach der Rue de Grès mit den Geschäftsräumen verbunden. Hier rauchte, trank, spielte und lachte man. Laut unterhielt man sich über allerlei, leise über anderes. An der Wand hing, genügend, um den Spürsinn eines Polizeiagenten zu wecken, eine Karte der Republik Frankreich.
Die meisten Freunde des ABC waren Studenten, die mit den Arbeiternauf gutem Fuß standen. Die wichtigsten wollen wir nennen, denn sie gehören ja gewissermaßen der
Weitere Kostenlose Bücher