Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Geschichte an: Enjolras, Combeferre, Jean Prouvaire, Feuilly, Courfeyrac, Bahorel, Lesgle, oder Laigle, Joly, Grantaire. Untereinander waren diese jungen Leute eine große Familie, zusammengehalten durch die Bande der Freundschaft. Alle außer Laigle stammten aus dem Süden.
Einer unter diesen jungen Leuten war ein Kahlkopf.
Der Marquis d’Avarai, den Ludwig XVIII. zum Herzog gemacht hatte, weil er ihm am Tage seiner Flucht in den Wagen geholfen, erzählt in seinen Memoiren, daß der König 1814, als er in Calais an Land ging, einen Mann mit einer Bittschrift in Audienz empfing.
»Was wollen Sie?« fragte der König.
»Sire, eine Bestallung als Postmeister.«
»Wie heißen Sie?«
»L’Aigle.«
Der König runzelte die Stirn und warf einen Blick auf die Bittschrift, auf der der Name Lesgle geschrieben war. Diese antibonapartistische Orthographie gefiel ihm, und er mußte lächeln.
»Sire«, sagte der Mann, »einer meiner Ahnen war ein Hundewärter, dem gab man den Spitznamen Lesgueules, die Mäuler. Daraus wurde ein Familienname. Ich heiße eigentlich Lesgueules, zusammengezogen Lesgle und entstellt l’Aigle.«
Wieder mußte der König lachen. Später bekam jener Mann das Postamt von Meaux.
Der Kahle unter den Freunden des ABC war ein Sohn jenes Lesgle oder Lègle. Seine Freunde nannten ihn Bossuet.
Bossuet war ein lustiger Bursche, der sehr viel Pech hatte. Seine besondere Geschicklichkeit war es, nichts zuwege zu bringen. Und immer lachte er über sein Mißgeschick. Schon als Siebenundzwanzigjähriger war er kahl. Sein Vater hatte es bis zum Besitzer eines Hauses und eines Stücks Ackerland gebracht, aber der Sohn brachte es zuwege, falsch zu spekulieren und Haus und Grund zu verlieren. Nichts war ihm geblieben. Er besaß Geist und Kenntnisse, aber er wußte nichts damit anzufangen. Alles trog, alles täuschte ihn. Wenn er Holz spalten wollte, traf er seinen Finger. Glaubte er eine Geliebte zu haben, so mußte er bald bemerken, daß er durch sie auch einen Freund hatte. Immer passierte ihm etwas, immer war er jovial und lustig. Er sagte selbst von sich:
»Ich wohne unter einem Dach, dessen Ziegel sehr locker sitzen.«
Bossuet hält eine Leichenrede auf Blondeau
Eines Nachmittags stand Laigle aus Meaux gemütlich an den Türpfosten des Café Musain gelehnt. Er sah aus wie eine Karyatide auf Urlaub. Er trug nichts als seine träumerischen Gedanken.
So blickte er auf den Platz Saint-Michel hinaus. Seine Nachdenklichkeit hinderte weder ein Kabriolett vorüberzufahren, noch ihn selbst, davon Kenntnis zu nehmen. Laigle sah hin. In dem Gefährt saß ein junger Mann, der einen ziemlich umfangreichen Reisesack vor sich liegen hatte, und auf diesem Reisesack stand so groß, daß jedermann es lesen konnte:
Marius Pontmercy.
Dieser Name veranlaßte Laigle, seine Stellung zu verändern. Er wandte sich um und rief:
»Herr Pontmercy!«
Das Kabriolett hielt an.
Der junge Mann, der darin saß, schien ebenfalls in Gedanken versunken; jetzt blickte er auf.
»Nun?«
»Sind Sie Herr Marius Pontmercy?«
»Ohne Zweifel.«
»Ich suche Sie …«
»Wieso denn?« fragte Marius. »Ich kenne Sie doch gar nicht.«
»Ich Sie auch nicht.«
Marius glaubte es mit einem Spaßvogel zu tun zu haben, der ihn mitten auf der Straße mystifizieren wollte. Er war augenblicklich nicht bei Laune und runzelte die Stirn. Aber Laigle ließ sich nicht einschüchtern.
»Sie waren vorgestern nicht im Kolleg?«
»Wohl möglich.«
»Es ist nicht nur möglich, es ist sogar sicher, Herr.«
»Sind Sie Student?«
»Ja, so gut wie Sie. Vorgestern war ich zufällig dort. Sie wissen, man kommt manchmal auf solche Einfälle. Da kam der Professor auf die Idee, die Namen zu verlesen. Sie wissen wohl, die Herren scheuen manchmal nicht, sich auf diese Weise lächerlich zu machen. Wer zum drittenmal fehlt, wird von den Listen gestrichen. Sechzig Franken Gebühren sind beim Teufel.«
Marius war aufmerksam geworden.
»Es war Blondeau, der die Namen verlas. Sie kennen doch diesen Blondeau, diesen spitznasigen Bosngl, der sich einen Spaß daraus macht, die Schwänzer zu erwischen. Tückischerweise begann er mit dem Buchstaben P. Ich hörte nicht zu, denn beim P kann ich mich nicht kompromittieren. Es ging ganz gut, alle Welt war da. Blondeau tief betrübt. Blondeau, dachte ich, Geliebtes, heute erwischst du nichts. Da rief er gerade: Marius Pontmercy! Niemand antwortet. Blondeau wiederholt hoffnungsvoll: Pontmercy! Schon greift er nach der Feder.
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