Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
Vom Netzwerk:
geworden, wenn nicht durch einen jener Zufälle, die das Schicksal so gern in das menschliche Leben streut, die Szene von Vernon fast unmittelbar in Paris eine Art Pendant gehabt hätte.
    Marius kam am dritten Tage frühmorgens von Vernon zurück, ging in das Haus seines Großvaters und eilte sofort in sein Zimmer; zwei Nächte in der Postkutsche hatten ihn ermüdet, und er empfand das Bedürfnis, sich irgendwie, etwa durch einen Besuch in der Schwimmschule, zu erfrischen; darum nahm er sich nur knapp die Zeit, seinen Rock zu wechseln und das schwarze Band abzulegen, das er immer um den Hals trug; dann eilte er in das Bad.
    Gillenormand stand wie alle rüstigen Greise frühzeitig auf. Er hatte seinen Enkel zurückkommen gehört und eilte, so rasch wie ihn seine alten Beine trugen, in das Zimmer Marius’ hinauf, um ihn zu begrüßen und ein wenig auszuhorchen.
    Aber der Junge war schneller hinabgelaufen, als der Greis hinaufsteigen konnte, und als Vater Gillenormand in die Mansarde trat, war Marius schon fort. Das Bett war noch unberührt, der Rock und das schwarze Band lagen darauf. Offenbar hatte ihr Besitzer sie arglos hier liegenlassen.
    Das ist mir noch lieber, dachte Gillenormand.
    Einen Augenblick später trat er triumphierend in den Salon, in dem Fräulein Gillenormand saß und an einer Stickerei arbeitete, deren Muster an die Räder eines Kabrioletts erinnerten. In der einen Hand hielt er den Rock, in der anderen das Halsband.
    »Wir haben gesiegt! Gleich werden wir in das Geheimnis eindringen: jetzt lernen wir die geheimen Wege des Lasters kennen! Hier haben wir den Roman, hier haben wir das Porträt!«
    In der Tat hing an dem Bund ein kleines Täschchen aus schwarzem Leder, einem Medaillon nicht unähnlich.
    Der Greis betrachtete es einige Zeit lang, ohne es zu öffnen, gierig, entzückt und mit der Wut eines armen verhungerten Teufels, vor dessen Augen ein wunderbares Souper angerichtet wird – aber nicht für ihn.
    »Es ist bestimmt das Porträt. Auf solche Dinge verstehe ich mich. Das trägt man nun zärtlich auf dem Herzen. Sind diese Burschen blöde! Irgendeine alberne Stumpfnase jedenfalls, vor der einem übel wird – die jungen Leute haben heute gar keinen Geschmack mehr!«
    »Laß sehen, Vater«, sagte die alte Jungfer.
    Aber sie fanden nur ein sorgsam zusammengefaltetes Stück Papier darin.
    »Sie an ihn«, lachte Gillenormand, »ein Billetdoux!«
    »Ach, wir wollen es lesen«, sagte die Tante und setzte die Brille auf.
    Sie entfalteten das Papier und fanden folgendes:
    »An meinen Sohn!
Der Kaiser hat mich auf dem Schlachtfelde von Waterloo zum Baron gemacht. Da die Restauration mir den Titel, den ich mit meinemBlut erkauft habe, verweigert, soll mein Sohn ihn annehmen und tragen. Er wird gewiß seiner würdig sein.«
    Was Vater und Tochter empfanden, läßt sich schwer wiedergeben. Es war ihnen zumute, als ob ihnen aus einem Totenkopf ein eisiger Hauch entgegenwehte. Sie sprachen kein Wort. Endlich murmelte Gillenormand:
    »Es ist die Handschrift des Säbelraßlers.«
    Die Tante prüfte das Schriftstück und steckte es dann wieder in das Etui.
    Im selben Augenblick fiel ein kleines, rechteckiges Paketchen, in blaues Papier gewickelt, aus der Rocktasche. Fräulein Gillenormand hob es auf und nahm es aus dem Umschlag. Es waren die Visitenkarten Marius’. Gillenormand las:
    Baron Marius Pontmercy.
    Der Greis schellte. Nicolette trat ein. Gillenormand nahm das Band, das Etui und den Rock, warf alles mitten im Salon zu Boden und rief:
    »Schaffen Sie das Zeug hinaus!«
    Eine lange Stunde verstrich in tiefstem Schweigen. Vater und Tochter saßen in ihren Stühlen, kehrten einander den Rücken und dachten offenbar dasselbe. Nach einer Stunde sagte Tante Gillenormand endlich:
    »Nette Sache, das!«
    Kurz nachher erschien Marius. Schon auf der Schwelle bemerkte er, daß sein Großvater eine seiner Visitenkarten in Händen hielt; und im selben Augenblick begann der Alte mit dem ganzen überlegenen Hohn des Großbürgers zu schimpfen.
    »Hoho, du bist jetzt Baron! Alle Achtung! Und was soll das bedeuten?«
    Marius errötete leicht, dann antwortete er:
    »Das bedeutet, daß ich der Sohn meines Vaters bin.«
    Sofort hörte Gillenormand auf zu lachen und antwortete hart:
    »Dein Vater bin ich.«
    Mit niedergeschlagenen Augen und finsterer Miene antwortete Marius:
    »Mein Vater war ein bescheidener und kühner Mann, der der Republik und Frankreich ruhmvoll gedient hat, Anteil genommen hatund groß war in

Weitere Kostenlose Bücher