Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
ohne Brot, Nächte ohne Schlaf, Abende ohne Kerze, ungeheizte Zimmer, Wochen ohne Arbeit, eine hoffnungslose Zukunft, durchgescheuerte Ellbogen, alte Hüte, über die junge Mädchen lachen, eine Türe, die man des Abends verschlossen findet, weil man die Miete nicht bezahlt hat, unverschämte Bemerkungen des Portiers und des Wirts, Hohn der Nachbarn, Demütigungen, peinliche Arbeiten, die man übernommen hat, Ekel, Bitterkeit, Kummer. Marius lernte, wie man alles das hinunterschluckt – und wie es oft das einzige ist, was man zu schlucken hat. Gerade in jenem Alter, in dem der Mensch den Stolz braucht, weil er die Liebe sucht, fühlt er, daß man sich über ihn lustig macht, weil er schlecht gekleidet ist, und ihn verlacht, weil er Not leidet. Es ist eine furchtbare und herrliche Probe, aus der die Schwachen vernichtet, die Starken veredelt hervorgehen.
Es gab in Marius’ Leben eine Zeit, da kehrte er selbst den Boden seines Zimmers, kaufte für einen Sou Käse aus Brie bei der Gemüsehändlerin, wartete bis Einbruch der Nacht, um zu einem Bäcker zu eilen und ein einziges Brötchen zu kaufen, das er scheu forttrug, als ob er es gestohlen hätte.
Er trug noch Trauer um seinen Vater, als diese Zeit anfing. Später hatte er die Gewohnheit beibehalten, in Schwarz zu gehen. Aber die schwarzen Gewänder blieben nicht bei ihm. Es kam der Tag, da alles fehlte. Nur die Hose ging noch. Was tun? Courfeyrac, dem er seinerzeit einige Dienste geleistet hatte, gab ihm einen alten Rock. Den ließ Marius von einem Portier für dreißig Sous wenden, so hatte er einen neuen. Aber dieser Rock war grün. Darum ging Marius jetzt nur mehr nach Dunkelheit aus. Dann war sein Rock auch schwarz. Er wollte in Trauer gehen, also kleidete er sich in die Nacht.
Trotz allem erlangte er den Advokatenrang. Er hatte vorgetäuscht, daß er Courfeyracs Zimmer bewohnte, das einigermaßen anständig aussah und in dem einige Rechtshandbücher und Romane herumstanden: das war die Bibliothek, die das Reglement verlangte.
Auch seine Post ließ er dahin richten.
Marius arm
Mit dem Elend ist es wie mit allem. Schließlich wird es erträglich. Es nimmt eine bestimmte Form an. Man vegetiert, man entwickelt sich auf eine bestimmte jämmerliche Weise, aber dem Leben geschieht Genüge.
Und so richtete Marius Pontmercy sich ein.
Durch Fleiß, Mut und Zähigkeit war es ihm gelungen, sich ein Einkommen von etwa siebenhundert Franken jährlich zu schaffen. Er hatte Deutsch und Englisch gelernt. Dank Courfeyrac, der ihn mit seinem Freunde, dem Verleger, bekannt gemacht hatte, konnte er kleinere Arbeiten bekommen. Er verfaßte Prospekte, übersetzte Zeitungsartikel, versah Neuausgaben mit Anmerkungen, kompilierte Biographien – kurz, er verdiente schlecht und recht seine siebenhundert Franken. Davon lebte er. Wie? Nicht so schlecht! Man wird gleich sehen.
Er bewohnte im Gorbeauschen Hause ein Loch ohne Kamin, das sich Kabinett nennen ließ und in dem es an Möbeln nur das Unentbehrlichste gab; dafür zahlte er jährlich dreißig Franken. Die Möbel gehörten ihm. Drei Franken monatlich gab er der alten Vermieterin, damit sie die Aufwartung besorgte, ihm jeden Morgen ein wenig warmes Wasser, ein frisches Ei und ein Brot für einen Sou brachte. Dieses Brot und dieses Ei waren sein Frühstück. Der Preis schwankte zwischen zwei und vier Sous, je nach der Jahreszeit, ob die Eier gerade billig oder teuer waren. Um sechs Uhr abends ging er in die Rue Saint-Jacques und speiste bei Rousseau, gegenüber von Basset, dem Kupferstichhändler, an der Ecke der Rue des Marthurins. Die Suppe ließ er aus. Er nahm ein Fleischgericht zu sechs Sous, eine halbe Portion Gemüse zu drei Sous und ein Dessert für drei Sous. Brot nach Belieben für drei Sous. Statt Wein Wasser. Wenn er am Büfett, wo Frau Rousseau immer noch fett und frischresidierte, seine Rechnung beglich, gab er noch einen Sou für den Kellner, was Frau Rousseau mit einem Lächeln quittierte. Dann ging er. Für sechzehn Sous ein Diner und einmal Lächeln.
Dieses Restaurant Rousseau, in dem so viele Wasserkaraffen und so wenig Weinflaschen geleert wurden, existiert heute nicht mehr. Der Besitzer hatte einen hübschen Spitznamen, er hieß allgemein der Wasserrousseau.
Frühstück vier Sous, Diner sechzehn Sous – macht zwanzig Sous täglich für Ernährung; also dreihundertfünfundsechzig Franken im Jahr. Dazu dreißig Franken Miete und sechsunddreißig für die Alte und einige Nebenausgaben; für
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