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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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überstrahlt.
    So geschah es auch mit Marius. Vielleicht gab er sich ein wenig zu sehr den Freuden der Träumerei hin. Seit er ein sicheres Auskommen gefunden hatte, war er bescheiden geworden, fand es gut, arm zu sein, und suchte nicht mehr Arbeit, um ganz seinen Gedanken leben zu können. Manchmal verbrachte er Tage damit, nachzusinnen und wie ein Visionär den Stimmen seines Inneren zu lauschen. Er bemerkte nicht, daß die Besinnlichkeit die Formen der Faulheit annehmen kann; daß er sich vorzeitig begnügt hatte, nur die dringendsten Lebensbedürfnisse zu decken.
    Zweifellos bedeutete dieser Zustand für eine energische und hochherzige Natur wie die seine nur einen Übergang; auf den ersten Anhieb würde er erwachen und sich aufraffen.
    Obwohl er Advokat war, klagte er niemand, klagte nicht einmal über sein eigenes Leben. Statt des Plädoyers übte er die Träumerei. Gründe austüfteln, zu den Gerichten laufen, das war langweilig. Wozu sollte er es auch? Er hatte keinen Grund, einen anderen Broterwerb zu suchen. Sein Verleger, ein Winkelverleger, bot ihm immerhin sichere Arbeit und einen Ertrag, der genügte.
    Ein anderer, ich glaube, es war Magimel, bot ihm freie Station und fünfzehnhundert Franken jährlich an, wenn er eine regelmäßige Arbeit leistete. Eine angenehme Wohnung! Fünfzehnhundert Franken! Das waren ohne Zweifel Vorteile. Aber sollte er seiner Freiheit entsagen! Ein Gehaltsempfänger werden?
    Nach Marius’ Meinung mußte sich seine Lage, wenn er annähme, verbessern und zugleich verschlechtern, denn er gewann an materiellen Gütern, verlor aber an Würde; an Stelle schöner Not würde etwas Häßliches, Lächerliches treten. Er lehnte ab.
    Insgesamt hatte er nur zwei Freunde, einen jungen, Courfeyrac, und einen alten, Mabeuf. Den alten zog er vor. Er war es, der den Anstoß zu seiner ganzen Entwicklung gegeben hatte, durch ihn hatte er seinen Vater kennen- und liebengelernt.
    Er hat mir den Star gestochen, sagte er.

Fünftes Buch
Begegnung zweier Sterne
Spitznamen werden zu Familiennamen
    Zur Zeit seines tiefsten Elends hatte Marius beobachtet, daß die Mädchen sich umwandten, wenn er vorüberging; dann lief er davon oder versteckte sich, den Tod in der Seele. Er glaubte, man sähe ihm wegen seiner alten Kleider nach und verlache ihn; in Wirklichkeit aber warf man ihm Blicke zu, weil er gefiel.
    Dieses stumme Mißverständnis hatte ihn menschenscheu gemacht. Er wählte sich keine Geliebten, aus dem zwingenden Grund, weil er alle mied. Er lebte gleichgültig oder, wie Courfeyrac sagte, blöde vor sich hin.
    Wenn Courfeyrac ihm begegnete, begrüßte er ihn oft:
    »Tag, Herr Abbé!«
    Und doch gab es auf dieser Welt zwei Frauen, die Marius nicht mied und vor denen er sich nicht versteckte. Er wäre auch höchst verwundert gewesen, wenn man ihn darauf hingewiesen hätte, daß es Frauen waren. Die eine war die bärtige Alte, die sein Zimmer fegte, die andere ein ganz junges Mädchen, das er oft sah und dem er keinen Blick schenkte.
    Seit mehr als einem Jahr bemerkte Marius in einer verlassenen Allee des Luxembourg-Gartens, in der Allee, die an der Baumschule entlang läuft, einen Mann und ein sehr junges Mädchen; fast immer saßen sie auf der Bank am Ende der einsamen Allee. Und sooft der Zufall, der ja die Spaziergänge der Träumer lenkt, Marius in diese Allee führte, und das geschah fast täglich, begegnete er diesem Paar. Der Mann mochte sechzig Jahre zählen. Er sah traurig und ernst aus. Seine kräftige und zugleich müde Gestalt ließ darauf schließen, daß er ein pensionierter Offizier wäre. Um Marius in dieser Überzeugung zu stärken, hätte er nur einen Orden tragen müssen. Er sah gütig, aber unnahbar aus, und nie ließ er seinen Blick auf jemand ruhen. Er trug blaue Hosen, einen blauen Rock und einen breitkrempigen Hut, ein schwarzes Halstuch und ein blendend weißes, aber grobes Quäkerhemd.
    Als er das junge Mädchen das erstemal neben dem Greis sitzen sah, mochte sie dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein; sie war mager, fast häßlich, linkisch und unbedeutend; vielleicht hatte sie schöne Augen, doch hielt sie diese mit einer Sicherheit, die mißfallen konnte, immer nach unten gerichtet. Gekleidet war sie kindlich und doch alt, wie Klosterzöglinge; ein schlechtgeschnittenes Kleid aus grober, schwarzer Merinowolle. Die beiden mochten wohl Vater und Tochter sein.
    Zwei- oder dreimal sah Marius diesen alten Mann, der noch kein Greis, und dieses junge Mädchen, das noch keine

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