Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
vierhundertfünfzig Franken war Marius ernährt, quartiert und bedient. Seine Kleidung kostete ihn jährlich hundert Franken, die Wäsche fünfzig, die Waschfrau ebensoviel. Alles zusammen sechshundertfünfzig. Blieben fünfzig. Er war reich. Konnte gelegentlich einem Freund mit zehn Franken aushelfen. Courfeyrac hatte einmal von ihm fünfzig Franken entliehen. Was die Heizung betraf, hatte Marius die Sache sehr einfach – mangels eines Kamins.
Marius erwachsen
Er zählte damals zwanzig Jahre. Seit drei Jahren hatte er das Haus seines Großvaters verlassen. Seither war keine Annäherung, kein Versöhnungsversuch erfolgt. Übrigens, wozu hätte er ihn sehen sollen? Marius war ein Gefäß aus Erz, aber Gillenormand ein Topf aus Eisen.
Und dabei müssen wir offen eingestehen, daß Marius sich in seinem Großvater täuschte. Er bildete sich ein, Gillenormand habe ihn niemals geliebt, dieser kurze, harte, spöttische Mann, der immer fluchte, schrie, tobte und mit dem Stock drohte, habe für ihn höchstens eine flüchtige Zuneigung empfunden. Aber er irrte. Es gibt Väter, die ihre Söhne nicht mögen, aber es gibt keinen Großvater, der seine Enkel nicht liebt. Und Gillenormand vergötterte Marius. Er tat es auf seine Art, mit Püffen und Ohrfeigen, aber jetzt, da der Junge fort war, fühlte er eine düstere Leere in seinem Herzen. Er verlangte, daß von dem Burschen nicht mehr geredet werde, aber insgeheim ärgerte er sich, daß man ihm gehorchte. Anfangs hoffte er auch wohl, dieser Bonapartist, Jakobiner, Terroristwürde zurückkommen. Aber es vergingen Wochen und Monate, ja sogar Jahre, und zur größten Verzweiflung Gillenormands blieb der Blutsauger aus. Ich konnte doch nichts anderes tun, dachte er, ich mußte ihn hinauswerfen. Oder er überlegte: wenn ich mich noch einmal zu entscheiden hätte, täte ich es wieder? Sein Stolz antwortete rasch bejahend, aber dann schüttelte er traurig den alten Kopf und gestand leise, daß er es doch nicht getan hätte. Es kamen Stunden der Niedergeschlagenheit. Marius fehlte ihm.
Was die Tante betraf, so dachte sie viel zu wenig, um lieben zu können; für sie war Marius nur etwas Vages, Unbestimmtes; schließlich beschäftigte sie sich mit ihm weniger als mit der Katze oder mit dem Papagei; denn wir nehmen ohne weiteres an, daß sie einen besaß.
Während der Alte bedauerte, von seinem Enkel getrennt zu sein, freute Marius sich darüber. Ihm ging es wie allen guten Herzen, das Unglück befreite ihn von der Bitterkeit. Er dachte ohne Zorn an Gillenormand, aber er bestand darauf, nichts von dem Manne anzunehmen, der seinen Vater so schlecht behandelt hatte.
Als er aus dem Hause des Großvaters gejagt worden war, hatte er noch keinen Mann abgeben können. Jetzt aber war er erwachsen. Die Armut ist vor allem der Jugend nützlich, denn sie strafft den Willen zu Kraftleistungen und inspiriert die Seele. Sie zeigt das materielle Leben in seiner schrecklichen Nacktheit und lenkt alle Kräfte auf das Ideal. Ein reicher junger Mann findet hundert glänzende und grobe Zerstreuungen, Pferderennen, die Jagd, Hunde, Tabak, das Spiel, opulente Mahlzeiten und anderes mehr; Befriedigungen der niedrigen Instinkte auf Kosten der hohen. Ein armer junger Mann plagt sich um sein Brot, ißt sich gerade satt und überläßt sich dann der Träumerei. Er genießt die Schauspiele, zu denen Gott kostenlosen Eintritt gewährt, sieht den Himmel, die Sterne, die Kinder, alle die Menschen, unter denen er leidet. Er träumt, denkt an seine Größe, überwindet den Egoismus des Leidenden und läutert sich zum denkenden Wesen, das Mitleid empfindet. Jetzt wird ein erhabenes Gefühl in ihm wach, er vergißt sich selbst und empfindet für die andern. Bald wird er, der Millionär der Empfindungen, die Millionäre des Geldes beklagen. Im Ausmaß, in dem es in seiner Seele licht wird, schwindet der Haß. Das Elend eines jungen Menschen ist kein Elend. So furchtbaren Entbehrungen er auch ausgesetzt sein mag, mit seiner Gesundheit, seiner Kraft, seinem lebhaften Gang, seinen glänzenden Augen, seinem heißenBlut, seinen weißen Zähnen und seinem reinen Atem wird er immer noch einem alten Kaiser Neid einflößen. Tag für Tag verdient er sein Brot, wird aufrechter und stolzer, indessen sein Gehirn sich mit Gedanken bereichert. Ist sein Tagewerk vollendet, so gibt er sich seinen Freuden und Betrachtungen hin. Mit den Füßen steht er auf dem Boden der Kümmernis, der Hindernisse, aber seine Stirn ist von Licht
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