Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Almosen geben. Aber nein, es ist unmöglich. Keinen Sou habe ich im Hause! MeineFrau ist krank, und ich habe keinen Sou! Meine Tochter gefährlich verwundet – kein Geld im Hause! Meine Frau leidet unter Erstickungsanfällen. Das liegt wohl an ihrem Alter. Und ihre Nerven sind vollkommen verdorben. Ihr und meiner Tochter wäre Hilfe nötig. Aber der Arzt?! Und wie soll ich ohne einen Pfennig in der Tasche den Apotheker bezahlen? Ach, so weit hat mich die Kunst gebracht, und wie tief sind heutzutage die Künste gesunken! Und begreifen Sie wohl, mein reizendes Fräulein, und auch Sie, mein großmütiger Förderer, der Sie Tugend und Güte ausatmen und jene Frömmigkeit der Kirche, in der meine Tochter Ihnen täglich begegnet: ich erziehe meine Töchter religiös. Ich habe nicht erlaubt, daß sie zum Theater gehen. Daß ich sie nicht auf Abwegen treffe! Da laß ich mit mir nicht spaßen! Ich erziehe sie im Geiste der Ehre, der Moral und der Tugend. Fragen Sie die Mädchen nur selbst! Der gerade Weg ist der einzig anständige. Diese Kinder haben einen Vater. Das sind nicht Unglückliche, die keine Familie haben und später aller Welt zu Willen sind. Wer als Fräulein Niemand anfängt, wird alsbald jedermanns Freund. So etwas darf in der Familie Favantou nicht passieren. Ich will sie in Ehren großziehen, und sie sollen sittsam und gottergeben sein, heilig sei sein Name! Wissen Sie aber auch, was morgen geschieht? Morgen ist der vierte Februar, der Schicksalstag, die letzte, äußerste Frist, die mir der Hauswirt gegeben hat, und wenn ich heute abend nicht bezahle, wird morgen meine ältere Tochter, meine fiebernde Frau, mein verwundetes Kind – alle vier werden wir morgen aus diesem Hause gejagt, auf die Straße geworfen, ohne Schutz, in Regen und Schnee! So steht’s mit uns, mein Herr. Ich schulde vier Mieten, ein ganzes Jahr, volle sechzig Franken!«
Jondrette log. Denn erstens waren vier Mieten nur vierzig Franken, und zweitens konnte er nicht vier schuldig sein, denn Marius hatte ja vor sechs Wochen zwei für ihn bezahlt.
Leblanc zog ein Fünffrankenstück aus der Tasche und legte es auf den Tisch.
Jondrette flüsterte seiner Tochter zu:
»Der Geizkragen! Was soll ich mit seinen fünf Franken anfangen? Das reicht nicht einmal für den Stuhl und die Scheibe. Mit so etwas macht man sich noch Spesen!«
Inzwischen hatte Herr Leblanc seinen braunen Überrock ausgezogen und über die Lehne des Stuhls gelegt.
»Herr Favantou«, sagte er, »ich habe nur fünf Franken bei mir,aber ich will jetzt meine Tochter nach Hause bringen und noch heute abend wiederkommen. Heute abend sollen Sie doch zahlen, nicht wahr?«
Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Jondrettes Gesicht.
»Ja«, erwiderte er lebhaft, »mein ehrenwerter Herr. Um acht Uhr muß ich bei dem Hauswirt sein.«
»Gut, ich komme um sechs und bringe Ihnen die sechzig Franken.«
»Mein Wohltäter!«
Leblanc hatte den Arm des jungen Mädchens genommen und wandte sich zur Tür.
»Auf heute abend also, meine Freunde!«
Jetzt bemerkte die ältere Tochter Jondrettes den Rock, der auf dem Stuhl hängengeblieben war.
»Sie vergessen Ihren Überrock, mein Herr!«
Ein furchtbarer Blick des Vaters traf sie.
Leblanc wandte sich um und sagte lächelnd:
»Ich habe ihn nicht vergessen, ich lasse ihn gern hier.«
Droschkentarif: zwei Franken die Stunde
Marius stürzte aus seinem Zimmer. An der Ecke des Boulevard angelangt, sah er die Droschke in voller Fahrt in die Rue Mouffetard einbiegen. Wie sollte er sie einholen? Nachlaufen? Das war unmöglich. Auch würde man aus dem Wagen sehen, daß jemand hinterherliefe, so rasch ihn die Beine trugen, und der Vater würde ihn erkennen.
In diesem Augenblick kam eine Droschke vorüber, und Marius entschloß sich – erstaunlicher und unerhörter Mut! –, einzusteigen und dem Fiaker zu folgen. Das war sicher, wirksam und gefahrlos.
Also winkte er dem Kutscher und rief:
»Auf eine Stunde.«
Marius war ohne Halstuch und trug seinen alten Arbeitsrock, dem die Knöpfe fehlten; das Hemd war vorn an der Fältelung des Bruststücks zerrissen.
Der Kutscher hielt, zwinkerte, streckte die Linke aus und rieb mit vielsagender Miene Zeigefinger und Daumen aneinander.
»Was wollen Sie?«
»Zahlen Sie im voraus!«
Marius erinnerte sich, daß er nur sechzehn Sous bei sich hatte.
»Wieviel macht das?«
»Vierzig Sous.«
»Ich bezahle, wenn wir zurück sind.«
Der Kutscher antwortete nur, indem er pfiff und mit der Peitsche
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