Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
Vom Netzwerk:
er jäh aus seiner Nachdenklichkeit gerissen.
    Er hörte die laute, harte Stimme Jondrettes, und seine Worte waren für Marius von einem seltsamen Interesse.
    »Und ich sage dir, daß ich meiner Sache sicher bin und ihn erkannt habe.«
    Von wem sprach Jondrette? Wen hatte er wiedererkannt? Herrn Leblanc, den Vater »seiner Ursule«? Jondrette kannte ihn?
    Marius sprang mehr auf die Kommode, als er sie erstieg, und im nächsten Augenblick hatte er seinen Beobachtungsposten wieder bezogen.
Erkannt …
    »Wirklich? Du bist deiner Sache sicher?«
    Es war die Frau, die so fragte.
    »Vollkommen sicher. Es sind acht Jahre her, aber ich habe ihn wiedererkannt. Oh, ob ich ihn wiedererkannt habe! Sofort! Daß dir das nicht gleich in die Augen gesprungen ist?!«
    »Nein.«
    »Und ich hab dir doch gesagt: paß auf! Dieselbe Figur, dasselbe Gesicht, kaum gealtert, denn manche Leute werden ja nicht älter, weiß der Teufel, wie sie das anstellen. Und auch dieselbe Stimme. Nur ist er besser angezogen. Hinter diesem alten Teufel steckt ein Geheimnis.«
    Jetzt wandte er sich an seine beiden Töchter:
    »Raus mit euch beiden – komisch, daß es dir nicht gleich aufgefallen ist.«
    Die beiden Mädchen waren aufgestanden.
    »Soll sie mit der kranken Hand hinausgehen?« fragte scheu die Mutter.
    »Die Luft wird ihr guttun. Marsch!«
    Offenbar war das ein Mann, dem man nicht widerspricht. Die beiden Mädchen gingen. Im Augenblick, in dem sie die Türe schließen wollten, rief der Vater der Älteren nach:
    »Um fünf Uhr pünktlich seid ihr hier. Alle beide. Ich werde euch brauchen.«
    Die Aufmerksamkeit Marius’ verdoppelte sich.
    Drei- oder viermal ging Jondrette schweigend auf und ab.
    Plötzlich wandte er sich nach seiner Frau um, kreuzte die Arme und rief:
    »Und soll ich dir noch etwas sagen? Dieses Fräulein …«
    »Nun?«
    Marius konnte nicht zweifeln, daß von ihr die Rede war. Gierig lauschte er. Es war, als ob sein Leben daran hänge.
    Aber Jondrette hatte sich zu seiner Frau herabgeneigt und flüsterte.
    Jetzt war er wieder besser zu verstehen.
    »Sie ist es. Dieselbe.«
    »Diese?«
    »Dieselbe.«
    Kein Wort kann ausdrücken, mit welcher Betonung die Mutter »diese?« gefragt hatte. In ihrem Tonfall war Überraschung, Wut und Haß.
    »Unmöglich«, sagte sie jetzt. »Wenn ich bedenke, daß meine Töchter barfuß und ohne Kleid herumlaufen! Ein Atlaspelz, ein Samthut, Schuhe – Zeug für zweihundert Franken hat sie auf dem Leibe. Man sollte sie für eine Dame halten! Nein, du irrst dich. Übrigens war sie häßlich, und diese ist nicht so übel. Sie kann es nicht sein.«
    »Und ich sage dir, daß sie es ist. Du wirst ja sehen.«
    Die Jondrette schien Marius in diesem Augenblick schrecklicher als ihr Gatte. Sie glich einer Wildsau mit den Augen einer Tigerin.
    »Was, dieses Geschöpf, diese Bettlerin wagt es, mitleidig auf meine Töchter herabzublicken? Ich möchte ihr die Därme aus dem Leib treten!«
    Sie sprang von ihrer Pritsche auf und blieb einen Augenblick stehen, zerzaust, mit geblähten Nasenflügeln, halboffenem Mund und geballten Fäusten. Dann ließ sie sich wieder auf die Pritsche zurückfallen.
    Der Mann ging auf und ab, ohne auf seine Frau zu achten.
    Endlich blieb er wieder vor ihr stehen, kreuzte die Arme, wie er es eben erst getan hatte, und sagte:
    »Und soll ich dir noch etwas sagen?«
    »Nun?«
    »Diesmal habe ich mein Glück gemacht«, sagte er leise.
    Aus ihrem Blick sprach die Befürchtung, er sei verrückt geworden.
    »Donnerschlag!« rief er, »lang genug wohne ich in der Pfarrei Stirbhungers im Sprengel Kalterherd! Jetzt habe ich genug von dem Jammer. Jetzt bin ich an der Reihe! Jetzt meine ich es todernst, jetzt sehe ich die Dinge gar nicht mehr komisch an. Genug gekalauert! Keine Späßchen mehr, himmlischer Vater! Jetzt will ich mich satt essen und trinken nach meinem Durst! Fressen will ich! Schlafen! Nichts tun! Bevor ich krepiere, will auch ich ein bißchen den Millionär spielen – wie die andern.«
    »Was willst du damit sagen?«
    Er schüttelte den Kopf, zwinkerte und begann wie ein Kurpfuscher zu predigen:
    »Was ich sagen will? Gut, so höre mich an!«
    »Still!« murmelte die Jondrette, »nicht so laut, wenn es Dinge sind, die nicht jedermann hören soll.«
    »Pah, wer hört uns denn? Der Nachbar? Der ist ausgegangen. Übrigens versteht er doch nichts, dieser Trottel!«
    Glücklicherweise dämpfte der dichtfallende Schnee das Rasseln der Wagen auf dem Boulevard, so daß Marius jedes

Weitere Kostenlose Bücher