Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Marius, »aber was wollen Sie tun?«
»Die Bewohner dieses Hauses haben alle Hausschlüssel. Sie müssen auch einen haben.«
»Ja.«
»Haben Sie ihn bei sich?«
»Ja.«
»Dann geben Sie ihn mir.«
Marius zog den Schlüssel aus seiner Weste und reichte ihn dem Inspektor. »Wenn Sie auf mich hören wollen«, fuhr er fort, »so kommen Sie nicht allein.«
Der Inspektor sah Marius an, wie Voltaire wohl einen Provinzlehrer angesehen hätte, der ihm etwa einen Reim vorschlug; dann vergrub er seine beiden mächtigen Hände in den gewaltigen Taschen seines Rocks und zog zwei kleine Pistolen hervor, Pistolen von jener Art, die man Faustschläger nennt. Er reichte sie Marius und sagte lebhaft und kurz:
»Nehmen Sie diese beiden da. Gehen Sie nach Hause. Verbergen Sie sich in Ihrem Zimmer. Man muß glauben, Sie wären ausgegangen. Die Pistolen sind geladen. Jede hat zwei Schüsse. Sie können durch das Loch in der Wand, von dem Sie sprachen, alles beobachten.Lassen Sie die Sache erst in Gang kommen. Wenn Sie glauben, daß sie soweit gediehen ist, geben Sie einen Schuß ab. Nicht zu spät. Das Weitere besorge ich. Schießen Sie in die Luft, in die Decke, wohin Sie wollen. Jedenfalls nicht zu spät! Warten Sie, bis die Sache in Gang ist, Sie sind Advokat und müssen es ja verstehn.«
Marius steckte die Pistolen in seine Rocktasche.
»Da sieht man sie«, sagte der Inspektor, »tun Sie sie lieber in die Hosentaschen.«
Marius gehorchte.
»So, und jetzt wollen wir keine Minute mehr verlieren. Wenn Sie vorher noch etwas Weiteres mitzuteilen haben, kommen Sie selbst oder schicken Sie jemand. Wenden Sie sich an den Inspektor Javert.«
Marius versteckt sich
Glücklicherweise war das Haus noch nicht verschlossen, als Marius ankam. Auf den Fußspitzen stieg er die Treppe hinan und schlich in sein Zimmer. Es war die höchste Zeit, denn kurz nachher hörte er Frau Burgon fortgehen und das Haustor abschließen.
Er setzte sich auf sein Bett. Sein Puls schlug so laut, daß er ihn wie das Ticken einer Uhr hören konnte. Furcht empfand er nicht, aber er dachte nicht ohne Zittern an die Dinge, die da kommen sollten.
Die Zeit verstrich. Es hatte aufgehört zu schneien. Es dunkelte. Bei Jondrettes war Licht angezündet worden. Marius sah durch das Loch in der Wand einen roten Schimmer, der ihm blutig schien. Jedenfalls konnte er nicht von einer Kerze herrühren. Übrigens rührte sich nebenan niemand, kein Wort wurde gewechselt.
Vorsichtig zog Marius seine Schuhe aus und stellte sie unter das Bett.
Wieder verstrich einige Zeit. Marius hörte die Tür in den Angeln kreischen. Rasch und schwer stieg jemand die Treppe herauf. Es war Jondrette, der nach Hause kam.
Alle begannen zugleich zu sprechen. Offenbar war die ganze Familie in der Stube versammelt. Nur hatte sie bisher geschwiegen, wie es im Wolfsbau still ist, solange der alte Wolf fort ist.
»Guten Tag, Papachen!« riefen die Mädchen.
»Nun?« fragte die Mutter.
»Alles geht wie geschmiert«, erwiderte Jondrette, »aber mir ist schandbar kalt an den Füßen. Du hast recht gehabt, Frau, daß du dich so angezogen hast. Du wirst Vertrauen einflößen müssen.«
»Ich bin fertig und kann sofort gehen.«
»Und du hast nichts vergessen?«
»Sei unbesorgt.«
»Ja«, sagte jetzt Jondrette, »die Falle ist bereit, die Katzen warten«, und etwas leiser: »Legt dies da ins Feuer.«
Marius hörte ein Klirren, wie wenn ein Eisengegenstand auf Kohlen gelegt wird.
»Sind die Türangeln gut geölt?«
»Ja.«
»Wie spät ist es?«
»Bald sechs. In Saint-Médard hat es schon halb geschlagen.«
»Hol’s der Teufel, die Kleinen müssen auf Posten gehen. Hört ihr da!«
Ein Flüstern folgte.
Dann fragte Jondrette laut:
»Also die Burgon ist fort?«
»Jawohl.«
»Und du bist sicher, daß niemand bei dem Nachbarn ist?«
»Er war den ganzen Tag außerhalb. Und um diese Zeit geht er immer essen.«
»Na … immerhin, es wird sich empfehlen, einmal nachzuschauen. Kleine, nimm mal die Kerze und geh herüber.«
Marius ließ sich auf Hände und Knie fallen und kroch unter das Bett.
Er war kaum in seinem Versteck angelangt, als er schon Licht durch den Türspalt sah.
»Papa, er ist schon fort!«
Es war die Stimme der älteren Tochter.
»Bist du drin?«
»Nein, aber der Schlüssel steckt in der Tür.«
»Geh doch hinein.«
Die Türe wurde weit geöffnet, und Marius sah die ältere Tochter Jondrettes mit einer Kerze in der Hand eintreten. Sie ging geradeswegs auf das Bett zu.
Weitere Kostenlose Bücher