Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Marius erlebte einen Augenblick seltsamer Angst. Aber sie blieb vor dem Spiegel stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen und sah hinein. Dann trat sie zum Fenster, sah hinausund sagte laut und in dem Tonfall halben Irrsinns, der ihr eigentümlich war:
»Wie Paris häßlich ist im weißen Hemd!«
Wieder trat sie vor den Spiegel und betrachtete sich genau.
»Holla«, schrie der Vater, »was treibst du da drüben?«
»Ich schau unter das Bett und unter die Möbel«, erwiderte das Mädchen und fuhr fort, sich die Haare zurechtzustreichen.
»Idiotin!« brüllte der Vater, »sofort kommst du hierher. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Ich komm schon. In dieser Bude hat man zu nichts Zeit.«
Dann warf sie einen letzten Blick in den Spiegel und ging.
Gleich darauf hörte Marius die beiden Barfüßigen den Korridor entlanglaufen. Jondrette rief ihnen nach:
»Aufgepaßt! Eine gegen das Tor zu, die andere an der Ecke der Rue du Petit-Banquier. Verliert nicht das Haustor aus dem Auge. Sobald ihr etwas merkt, lauft ihr hierher. Schlüssel habt ihr.«
Die Ältere murrte:
»Barfuß im Schnee Schmiere stehen!«
»Morgen habt ihr Seidenschuhe.«
Jetzt waren nur mehr Marius und die beiden Jondrettes im Haus; oder vielleicht auch die geheimnisvollen Gestalten, die Marius hinter der Mauer gesehen hatte.
Man achte auf den Hintergrund!
Jondrette hatte seine Pfeife angebrannt und sich auf den durchlöcherten Stuhl gesetzt.
Wenn Marius Courfeyrac gewesen wäre, also einer von jenen Menschen, die bei jeder Gelegenheit etwas zu lachen finden, hätte er laut herausplatzen müssen, wenn er durch sein Guckloch die Jondrette sah. Sie trug einen schwarzen Federhut, wie ihn die Herolde Karls X. zu tragen pflegten, einen ungeheuerlichen Schal und Männerstiefel. Das war die Toilette, die Jondrette zu dem Ausruf veranlaßt hatte.
»Du hast recht gehabt, Frau, daß du dich so angezogen hast. Du wirst Vertrauen einflößen müssen.«
Plötzlich begann Jondrette wieder zu sprechen.
»Apropos, er kommt ja in einer Droschke. Ohne Zweifel. Zündedeine Laterne an und geh damit hinunter. Erwarte ihn hinter der Türe. Wenn der Wagen vorfährt, machst du auf und leuchtest dem Philanthropen auf der Treppe. Sobald er im Korridor ist, gehst du zurück und bezahlst den Kutscher, damit er wegfährt.«
»Und das Geld?« fragte die Frau.
Jondrette wühlte in seinen Hosentaschen und holte ein Fünffrankenstück hervor.
»Wo ist denn das her?« fragte die Frau.
»Von unserm Nachbarn, heute früh geschenkt.«
Dann fuhr er fort:
»Wir brauchten auch noch zwei Stühle.«
»Wozu?«
»Mein Gott, zum Sitzen.«
Marius erschauerte, als er die Jondrette gemächlich antworten hörte:
»Na, dann holen wir eben die von unserem Nachbarn.«
Und schon öffnete sie die Tür und trat in den Korridor.
Marius hatte nicht mehr Zeit, von der Kommode herabzuspringen und unter das Bett zu fliehen.
»Nimm die Kerze!« rief ihr Jondrette nach.
»Wie kann ich denn, wenn ich zwei Stühle tragen soll.«
Marius hörte, wie Mutter Jondrette an seinem Schlüssel herumtastete. Die Tür ging auf. Er blieb wie angewachsen an seinem Platz stehen.
Die Jondrette trat ein. Sie konnte Marius in der Dunkelheit nicht sehen, nahm sofort die beiden Stühle, die einzigen, die Marius besaß, und ging wieder; die Tür fiel laut ins Schloß.
»So«, hörte er von drüben sagen, »hier hast du die Laterne, jetzt geh hinunter.«
Jondrette blieb allein zurück.
Er stellte die beiden Stühle an den Tisch, so daß sie einander gegenüberstanden, und trat dann an den Kamin. Marius sah am Boden eine Menge Seile und die Holzsprossen einer Strickleiter liegen.
Offenbar waren diese Geräte unter Tage erst hierhergebracht worden.
In dem Kaminfeuer lagen ein Meißel und eine große Feile.
Schmiedewerkzeug, dachte Marius. Inzwischen hatte Jondrette seine Pfeife ausgehen lassen. Das bewies, daß er intensiv nachdachte.Zuweilen zog er die Augenbrauen hoch und machte mit der rechten Hand Bewegungen, als ob er mit sich selbst spräche. Einmal, wohl in Erwiderung auf eine Frage in diesem Monolog, zog er die Tischlade heraus, entnahm ihr ein langes Küchenmesser und prüfte seine Schärfe an seinem Nagel. Dann warf er es wieder in die Lade zurück, die er zustieß.
Plötzlich erschütterten aus der Ferne sechs schwere Glockenschläge die Fensterscheiben. Die Turmuhr von Saint-Médard zeigte die sechste Stunde.
Jondrette quittierte jeden Schlag mit einem Nicken. Beim sechsten schneuzte
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