Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
er die Kerze mit den Fingern.
Da ging die Tür auf, Mutter Jondrette hatte sie geöffnet und stand auf der Schwelle; sie hatte ein scheußliches Gesicht aufgesetzt, das liebenswürdig sein sollte.
»Treten Sie ein, mein Herr.«
»Treten Sie ein, mein Wohltäter«, wiederholte Jondrette und sprang auf.
Leblanc erschien. In seinem Gesicht war jener Ausdruck edler Heiterkeit, der ihn so ehrwürdig erscheinen ließ.
Er zählte vier Louis auf den Tisch.
»Dies hier, Herr Favantou, für Ihre Miete und Ihre dringlichsten Bedürfnisse. Später werden wir weitersehen.«
»Gott möge es Ihnen vergelten, mein großmütiger Wohltäter«, sagte Jondrette, der sich gleichzeitig seiner Frau genähert hatte.
»Kutscher wegschicken«, flüsterte er ihr zu.
Sie verschwand, während ihr Gatte sich in Begrüßungsförmlichkeiten erging und Herrn Leblanc nötigte, Platz zu nehmen.
Gleich darauf kam sie wieder und sagte leise zu ihrem Mann:
»Abgemacht.«
Es hatte den ganzen Tag über geschneit, und hoher Schnee lag auf der Straße; man hatte den Wagen nicht kommen gehört, und jetzt war er lautlos verschwunden.
Kaum hatte Leblanc sich gesetzt, als er sich auch schon nach den beiden leeren Pritschen umwandte.
»Wie geht es der armen Verwundeten?«
»Schlecht«, antwortete Jondrette mit dankbarem und untertänigem Lächeln, »sehr schlecht, mein edler Herr. Die Ältere hat sie nach dem Spital gebracht, damit sie verbunden wird. Die beiden werden bald zurückkommen.«
»Und auch Frau Favantou scheint es besser zu gehen?« fragte Leblanc und betrachtete die komisch aufgetakelte Person, die zwischen ihm und der Tür stand, als ob sie den Ausgang zu bewachen hätte.
»Ihr ist sterbenselend«, sagte Jondrette, »aber was wollen Sie, mein Herr, sie hat Mut, diese Frau, sie ist kein Weib, sie ist ein Stier.«
»Du bist aber höflich, Jondrette«, rief seine Frau und zog ein schnippisches Mäulchen.
»Jondrette?« fragte Leblanc, »ich dachte Favantou?«
»Favantou, genannt Jondrette«, erwiderte der Gatte lebhaft. Jondrette ist nur der Künstlername.«
Ohne daß Leblanc es merken konnte, gab er seiner Frau zu verstehen, wie wenig er ihre Ungeschicklichkeit schätzte; gleichzeitig aber fuhr er mit zärtlicher Stimme und emphatisch fort:
»Oh, wir haben immer zusammengelebt wie Täubchen und Täuberich, wir beide! Was bliebe uns denn übrig, wenn wir nicht den häuslichen Frieden hätten! Ach, wir sind ja so unglücklich, bester Herr. Man hat gesunde Arme – aber keine Arbeit! Mut zu arbeiten, aber keine Gelegenheit. Ich weiß nicht, wie die Regierung sich das denkt, und auf Ehre, mein Herr, ich bin kein Jakobiner, aber wenn ich Minister wäre und wenn mein Wort gälte, wäre es anders. Sehen Sie, zum Beispiel, ich wollte meine Töchter Kartonagearbeit lernen lassen. Vielleicht werden Sie sagen: wie, ein gewöhnliches Handwerk? Doch! Einen Broterwerb. Ja, es ist ein großer Sturz, ein tiefer Sturz. Welche Erniedrigung, wenn man bedenkt, was wir früher waren. Aber ach, uns bleibt nichts aus vergangenen guten Tagen. Nur dieses einzige Bild da, das ich nie habe aus den Händen geben wollen und das ich jetzt doch verkaufen werde, denn man muß ja schließlich leben!«
Während Jondrette unzusammenhängend drauflossprach, ohne indessen seine gewöhnliche verschmitzte Miene zu verändern, hielt Marius Umschau und bemerkte im Hintergrund eine Person, die er bisher noch nicht gesehen hatte. Jemand war eingetreten, und zwar so leise, daß man die Tür nicht gehen gehört hatte. Er trug eine Weste aus violettem Wollstoff, ein altes, vielfach zerschnittenes Kleidungsstück, dann breite Samthosen und Stiefel, aber kein Hemd. Der Hals war nackt, und die Arme zeigten ihre Tätowierung. Das Gesicht war rußgeschwärzt. Der Unbekannte saß schweigend undmit gekreuzten Armen auf der Pritsche, und da er sich hinter Jondrette hielt, konnte man ihn kaum sehen.
Aber vermöge jenes Instinkts, der den Blick lenkt, wandte sich Leblanc fast gleichzeitig mit Marius nach jener Richtung. Er konnte sich einer gewissen Überraschung nicht erwehren, die auch Jondrette nicht entging.
»Ach«, sagte Jondrette und knöpfte stolz seinen Rock zu, »Sie sehen wohl Ihren Rock an? Er paßt mir. Meiner Treu, er paßt mir ausgezeichnet!«
»Wer ist denn dieser Mann?« fragte Leblanc.
»Der? Ein Nachbar. Achten Sie nicht weiter auf ihn.«
Dieser Nachbar sah recht sonderbar aus. Aber in der Vorstadt Saint-Marceau gibt es viele chemische Fabriken, und schwarze
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