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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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Gesichter wie einer, der seine Lage erfaßt, aber er schien sich nicht zu fürchten. Schon hatte er sich hinter den Tisch zurückgezogen; wenn er eben erst wie ein alter Biedermann ausgesehen hatte, so war jetzt der Athlet zum Vorschein gekommen, der seine furchtbare Faust vielsagend auf die Stuhllehne legte.
    Marius war in diesem Augenblick stolz auf ihn.
    Die drei, die Jondrette als Ofensetzer vorgestellt hatte, waren an den Kamin getreten und hatten sich mit den vorbereiteten Schmiedewerkzeugen bewaffnet. Der Alte saß neben der Jondrette auf dem Bett, hatte aber nun die Augen aufgeschlagen.
    Jetzt war der Augenblick gekommen, da Marius handeln mußte. Er richtete eine seiner Pistolen nach der Decke.
    Jondrette hatte sein Gespräch mit dem Stockträger beendet und wandte sich jetzt wieder Leblanc zu. Lachend fragte er:
    »Sie kennen mich also nicht?«
    Leblanc sah ihn ruhig an und antwortete:
    »Nein.«
    Jetzt trat Jondrette an den Tisch. Er beugte sich vor, kreuzte die Arme und rief:
    »Ich heiße nicht Favantou, ich heiße auch nicht Jondrette, mein Name ist Thénardier! Ich bin der Gastwirt aus Montfermeil. Verstehen Sie? Thénardier! Erkennen Sie mich jetzt?«
    Eine kaum bemerkbare Röte glitt über Leblancs Stirn, aber er antwortete, ohne Zittern der Stimme, ruhig wie immer:
    »Noch immer nicht.«
    Marius hörte diese Antwort nicht mehr. Wer ihn jetzt beobachtet hätte, dem wäre er als eine Statue des Entsetzens, der Starrheit erschienen. Als Jondrette gesagt hatte »Ich heiße Thénardier«, begann Marius zu zittern und lehnte sich an die Wand, als ob eine Degenklinge sein Herz durchbohrt hätte. Dann fiel die Hand, die die Pistole hielt, herab. Fast wäre ihr die Pistole entglitten.
    Jondrette hatte mit seiner Erklärung zwar nicht Leblanc, aber Marius getroffen. Wenn auch Leblanc diesen Namen Thénardier nicht zu erkennen schien, Marius kannte ihn. Und was bedeutete ihm dieser Name! Er hatte ihn immer an seinem Herzen getragen, im Testament seines Vaters. Ein Thénardier hatte seinem Vater das Leben gerettet, und wenn er, Marius, ihn träfe, sollte er alles für ihn tun. Dieser Name war seinem Herzen heilig. Er trieb mit ihm fast den gleichen Kult wie mit der Erinnerung an den Toten.
    Das also war dieser Thénardier, dieser Wirt aus Montfermeil, den er so lange vergeblich gesucht hatte! Und so mußte er ihn finden! Der Mann, der seinen Vater gerettet hatte, war ein Bandit, der Mann, dem Marius jeden Dienst leisten wollte, ein Scheusal! Jetzt war der Retter des Obersten Pontmercy im Begriff, ein Verbrechen zu begehen, das Marius nicht ganz verstand, das aber einem Mord sehr ähnlich sah. Und einen Mord an wem? Welche Fügung des Schicksals! Welch bitterer Hohn des Schicksals! Sein Vater rief ihm aus dem Sarge zu, er solle alles Erdenkliche für Thénardier tun, seit vier Jahren hatte Marius keinen anderen Gedanken gehabt, als diese Schuld seines Vaters einzulösen, und jetzt, da er einen Verbrecher auf frischer Tat der Justiz überliefern wollte, rief ihm das Schicksal zu: dies ist Thénardier! Er mußte das Leben seines Vaters, das jener auf den heroischen Gefilden von Waterloo gerettet hatte, bezahlen– mit dem Schafott bezahlen! Er hatte sich vorgesetzt, er wolle diesem Thénardier zu Füßen fallen, wenn er ihn fände, und jetzt sollte er ihn dem Henker ausliefern! Die Stimme seines Vaters befahl ihm: Eile Thénardier zu Hilfe! und gleichzeitig wollte er, Marius, Thénardier vernichten.
    Wenn er schoß, war Leblanc gerettet und Thénardier verloren. Schoß er nicht, so war Leblanc geopfert und Thénardier entkam vielleicht.
    Marius’ Knie zitterten; ihn schwindelte. Einen Augenblick lang fürchtete er, in Ohnmacht zu fallen.
    Inzwischen ging Thénardier triumphierend vor dem Tisch auf und ab.
    Jetzt nahm er den Leuchter, stellte ihn heftig auf den Kamin, wandte sich Leblanc zu und schrie:
    »Reingefallen! Verkohlt! Angeflogen!«
    Dann begann er wieder auf und ab zu gehen.
    »Also ich finde Sie wieder, Herr Philanthrop! Herr Millionär in der Bettlerkluft! Puppenverschenker! Alter Trottel! Sie erkennen mich nicht? Sie waren nicht vor acht Jahren in meiner Herberge in Montfermeil, zu Weihnachten 1823? Sie haben nicht das Kind der Fantine verschleppt? Und Sie haben nicht einen gelben Rock angehabt? Und nicht dieses Paket voll Lumpenzeug mitgebracht wie heute morgen? Sag doch, Frau – das ist wohl sein Schick, daß er überall Pakete mit Wollstrümpfen hinträgt?! Alter Wohltäter! Sie sind wohl

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