Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
er eben noch gesehen hatte. Der Tiger hatte sich in einen Advokaten verwandelt.
»Herr«, sagte Thénardier und winkte den Briganten zu, sie sollten beiseite treten. »Herr, Sie taten unrecht, als Sie aus dem Fenster springen wollten. Sie hätten sich ein Bein brechen können. Jetzt können wir, wenn es Ihnen recht ist, ruhig sprechen. Ich muß Sie zuerst auf eine Beobachtung aufmerksam machen, auf ein kleines Detail, das mir nicht entgangen ist: Sie haben während des ganzen Kampfes nicht geschrien. Mein Gott, wenn Sie ein bißchen um Hilfe geschrien hätten, ich hätte weiter gar nichts dabei gefunden. Man plärrt bei solchen Gelegenheiten – ich hätte es Ihnen wirklich nicht verübelt. Man schlägt eben Lärm, wenn man sich mit Leuten allein findet, denen man nicht vollständiges Vertrauen entgegenbringt. Übrigens ist dieses Zimmer sehr dumpf. Es hat sonst keine Vorteile, aber diesen hat es. Es ist eine rechte Höhle. Wenn hier eine Bombe platzt, glauben die Leute auf dem nächsten Wachtposten, ein Besoffener hat gegrunzt. Es ist ein bequemer Aufenthalt.Aber Sie haben nicht geschrien, und das ist noch besser. Ich gratuliere Ihnen. Aber ich möchte Sie etwas fragen. Lieber Herr, wer kommt, wenn man schreit? Die Polizei. Und wer folgt der Polizei auf dem Fuß? Die Justiz. Sie haben nicht geschrien. Also wünschen Sie nicht die Justiz und die Polizei zu sehen. Ich habe lange Zeit schon so etwas geahnt, Sie wünschen irgend etwas zu verbergen. Das liegt offenbar in Ihrem Interesse. Wir unsererseits, wir wünschen dasselbe. Unsere Interessen begegnen sich. Also können wir uns verständigen.«
Während er so sprach, schien Thénardier mit seinen scharfen Blicken im Herzen seines Gefangenen lesen zu wollen. Er sprach jetzt beherrscht und fast gewählt, so daß man diesen Banditen für einen Zögling eines Priesterseminars hätte halten können.
Das Schweigen, das der Gefangene selbst in höchster Lebensgefahr bewahrt hatte, dieser Widerstand, den er der natürlichen Regung, aufzuschreien, geleistet hatte, berührte Marius peinlich. Thénardiers anscheinend wohlbegründete Bemerkung verdichtete noch das Dunkel, das die seltsame Erscheinung jenes Mannes umgab, den Courfeyrac Herr Leblanc getauft hatte. Aber wer immer er auch sein mochte, in seiner höchst gefährlichen Lage, gefesselt, von Mördern umgeben, bewahrte er seine vollendete Ruhe; Marius konnte sich einer Regung ehrfürchtigen Staunens nicht erwehren, wenn er dieses selbst jetzt noch erhaben melancholische Gesicht betrachtete.
Thénardier stand jetzt auf und trat an den Kamin; er schob einen Paravent beiseite und gab den Ausblick auf die Eisengeräte frei, die in dem Feuer glühten.
Dann setzte er sich wieder vor Leblanc hin.
»Nun«, sagte er, »wir können uns verständigen. Einigen wir uns freundschaftlich. Ich bin zu weit gegangen. Weiß der Teufel, wo mein Verstand in diesem Augenblick war. Gewiß habe ich verrücktes Zeug geredet. Zum Beispiel habe ich gesagt, daß ich sehr, sehr viel Geld brauche, von Ihnen, da Sie ja Millionär sind. Das war unvernünftig. Sie sind ja reich, weiß Gott, aber auch Sie haben Verpflichtungen. Wer hat keine? Ich will Sie nicht ruinieren, ich bin kein Halsabschneider. Zu den Leuten, die einen Vorteil ausnützen bis zur Lächerlichkeit, gehöre ich nicht. Auch ich will Opfer bringen. Ich verlange nur zweihunderttausend Franken.«
Leblanc äußerte kein Wort.
»Sie sehen«, fuhr Thénardier fort, »daß ich mich mäßige. Ich weiß nicht, wieviel Sie haben, aber es kommt Ihnen gewiß nicht darauf an, denn ein Wohltäter wie Sie kann einem unglücklichen Familienvater schon einmal mit zweihunderttausend Franken aushelfen. Gewiß sind Sie vernünftig genug und bilden sich nicht ein, daß ich eine so große Sache arrangiere wie heute – es steckt Arbeit darin, Herr! –, um von Ihnen ein Trinkgeld zu erpressen. Zweihunderttausend Franken, soviel ist die Sache wert. Sobald Sie diese Bagatelle herausgerückt haben, bürge ich Ihnen dafür, daß alles geordnet ist. Sie werden sagen: ich habe den Betrag nicht bei mir. Gut, das habe ich auch nicht geglaubt. So etwas verlange ich gar nicht. Ich will nur etwas: seien Sie so liebenswürdig und schreiben Sie, was ich Ihnen jetzt diktiere.«
Jetzt unterbrach sich Thénardier, dann fuhr er mit einem Lächeln fort:
»Wenn Sie behaupten wollen, daß Sie nicht schreiben können, würde ich auf diesen Scherz allerdings nicht eingehen.«
Ein Großinquisitor hätte ihn um dieses
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