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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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der Gefangene sich von seinen Fesseln befreit gesehen hatte, war er, während Javert schrieb, verschwunden.
    Ein Agent lief zum Fenster und sah hinaus. Nichts war zu sehen. Die Strickleiter schwankte noch.
    »Verflucht!« schimpfte Javert, »und der war sicher der Interessanteste!«
Ein Kleiner, der seinen Vater sucht
    Am nächsten Morgen spazierte ein kleiner Junge, der von der Austerlitzer Brücke zu kommen schien, den Boulevard de l’Hôpital hinunter. Er war blaß und mager, und seine Beine steckten trotz der Februarkälte in einer dünnen Leinenhose.
    An der Ecke der Rue du Petit-Banquier wühlte eine gebückteAlte in einem Abfallhaufen. Im Vorübergehen rief ihr der Junge zu:
    »Holla, ich dachte, du wärst ein großer, großer Hund!«
    Er sprach das »großer« aus, daß man meinte, die Majuskeln zu hören.
    Wütend drehte sich die Alte um.
    »Verfluchter Lausbub!« schimpfte sie, »wenn du in Reichweite wärst –«
    »Kß! kß! vielleicht hab ich mich nicht getäuscht!«
    Wütend wandte sich die Alte wieder ab. Der Junge sah sie von der Ferne an.
    »Madame ist nicht mein Typ«, meinte er.
    Er spazierte weiter bis Nr. 50 bis 52, und als er die Tür verschlossen fand, wartete er. Und da auch das Warten vergeblich war, begann er, die Türe mit seinen Füßen zu stoßen.
    Die Alte von der Ecke der Rue du Petit-Banquier kam schnaufend näher. »Was gibt’s denn nur? Großer Gott, sie stoßen die Türe ein!« Plötzlich blieb sie stehen. Sie hatte den Straßenjungen erkannt. »Ach, du bist es, kleiner Satan?«
    »Uff!« murmelte der Junge, »guten Tag, Burgonchen. Ich will meine Alten besuchen.«
    Die Greisin antwortete mit einer Miene, die leider im Halbdunkel verlorenging.
    »Keiner hier, Fratz!«
    »So? Wo ist denn mein Vater?«
    »Im Kittchen.«
    »Und Mama?«
    »Im Loch.«
    »Und meine Schwestern?«
    »Hinter Schloß und Riegel.«
    Der Junge kratzte sich hinter dem Ohr, betrachtete Frau Burgon aufmerksam und sagte endlich:
    »Ach?!«
    Dann drehte er sich auf den Fersen um.

Vierter Teil
Eine Idylle in der Rue Plumet und ein Epopöe in der Rue Saint-Denis

Erstes Buch
Eponine
Das Lerchenfeld
    Marius hatte Javert auf die Spur der Verbrecher gebracht; und kaum war Javert wieder fort, um seine Gefangenen in drei Droschken nach dem Gefängnis zu bringen, da war auch Marius fortgelaufen. Es war erst neun Uhr abends. Er ging zu Courfeyrac.
    Der Student war jetzt nicht mehr einer der unbeirrbaren Bewohner des Quartier Latin. Er war nach der Rue de la Verrerie verzogen, »aus politischen Gründen«, wie er sagte. In jener Gegend ließen sich damals die Revolutionäre gern nieder.
    Als Marius Courfeyrac gesagt hatte, daß er bei ihm schlafen wolle, zog dieser eine Matratze aus seinem Bett (in dem es deren zwei gab), legte sie auf den Boden und sagte:
    »Bitte.«
    Am nächsten Morgen, es war erst sieben Uhr früh, begab sich Marius in sein früheres Quartier, bezahlte die restliche Miete und alles, was er Frau Burgon schuldete, ließ seine Bücher auf einen Handwagen verladen, sein Bett, seinen Tisch, seine Kommode und seine zwei Stühle, und dann entfernte er sich, ohne seine neue Adresse zu hinterlassen; als Javert am selben Morgen in das Gorbeausche Haus kam, um Marius noch einmal über die Vorgänge von gestern abend zu befragen, bestellte ihm »Mame Bougon«:
    »Ausgezogen.«
    Marius hatte zwei Gründe, so rasch umzuziehen. Einmal fühlte er einen lebhaften Widerwillen gegen dieses Haus, in dem er die Bekanntschaft einer der häßlichsten Ausgeburten unserer Gesellschaftsordnung gemacht hatte, des schlechten Armen, der vielleicht noch widerwärtiger ist als der schlechte Reiche. Und dann wollte er auch in dem Prozeß, der jener Verhaftung folgen mußte, nicht als Zeuge gegen Thénardier auftreten.
    Javert glaubte, der junge Mann, dessen Namen er übrigens vergessen hatte, sei furchtsam geworden und habe sich aus dem Staubgemacht; er riskierte einige Versuche, ihn wiederzufinden, erreichte aber nichts.
    So verging ein Monat, dann wieder einer. Marius wohnte noch immer bei Courfeyrac. Von einem Advokaten, der auf dem Strafgericht zu tun hatte, hatte er erfahren, daß Thénardier in Haft gehalten wurde. Jeden Montag ließ Marius Thénardier durch die Gefängniskasse fünf Franken übermitteln.
    Und da er sonst kein Geld mehr besaß, entlieh er diese kleinen Beträge Courfeyrac. Das war das erstemal in seinem Leben, daß er sich mit Schulden belastete. Diese regelmäßigen Überweisungen von je fünf Franken waren

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