Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
ihn der Verpflichtung überhob, sich zu etwas zu entscheiden.
Auf jeden Fall werde ich ja sehen, dachte er, ob sie gemeint war, denn die Thénardier wird sie hierherbringen. Dann ist alles entschieden, ich gebe dann gern mein Leben, wenn ich sie befreien kann. Nichts wird mich aufhalten.
Eine halbe Stunde verstrich. Thénardier war noch immer in Gedanken versunken. Der Gefangene rührte sich nicht. Dochglaubte Marius zuweilen und in Abständen ein ganz leises Geräusch von ihm her zu hören.
Plötzlich wandte Thénardier sich wieder an ihn:
»Hören Sie, Herr Fabre, wie die ganze Sache vor sich gehen soll. Meine Frau wird gleich kommen. Werden Sie nur nicht ungeduldig. Ich denke, daß die Lerche wirklich Ihre Tochter ist, und finde es ganz begreiflich, daß Sie auf sie aufpassen. Niemand wird ihr etwas zuleide tun. Sie soll nur an einen ruhigen Ort gebracht werden, wo sie warten wird, bis Sie die zweihunderttausend bezahlt haben. Wenn Sie mich verhaften lassen, wird mein Kamerad der Kleinen den Hals umdrehen. So steht die Sache.«
Der Gefangene äußerte nichts.
»Das ist doch gar nicht kompliziert, nicht wahr? Dem Mädel geschieht nichts Böses, wenn Sie selbst nicht wollen. Sobald ich weiß, daß die Kleine unterwegs ist, lassen wir Sie frei, und Sie können nach Hause schlafen gehen. Sie sehen, wir haben nichts Böses mit Ihnen vor.«
Furchtbare Bilder beängstigten Marius. Also die Leute wollten das Mädchen entführen? Eine dieser Bestien sollte zum Wächter dieses Mädchens werden?
Was sollte er tun? Jetzt schießen? Alle diese Schurken der Justiz übergeben? Dieser furchtbare Kerl mit dem Stock war ja bereits fort, hatte sich des jungen Mädchens schon bemächtigt. Thénardier hatte es ja selbst gesagt: wenn Sie mich verhaften lassen, dreht mein Kamerad der Kleinen den Hals um.
Jetzt hörte man die Haustür gehen.
»Sie kommt zurück«, sagte Thénardier.
Schon stürzte die Frau atemlos und keuchend herein.
»Falsche Adresse!« schrie sie.
Der Bandit, der sie begleitet hatte, trat in den Winkel und holte seinen Stock.
»Eine falsche Adresse?« fragte Thénardier.
»Rue Saint-Dominique Nr. 17 wohnt kein Urbain Fabre. Thénardier, dieser Alte hat dich an der Nase herumgeführt! Du bist, weiß Gott, viel zu gutmütig. Hättest du ihm wenigstens gleich auf Vorschuß das Maul krumm geschlagen! Ich, wenn es auf mich ankäme, ich hätte ihn lebendig geröstet. Ich würde ihn schon zum Reden bringen: wo das Mädchen ist und wo das Geld. So hätte ich es gemacht! Aber die Männer sind ja immer blöder als die Frauen.«
Marius atmete auf. Ursule – er wußte ja nicht, wie er sie sonst nennen sollte – war gerettet.
Thénardier betrachtete nachdenklich das Kohlenbecken. Dann wandte er sich langsam und doch grimmig an den Gefangenen.
»Eine falsche Adresse? Was versprichst du dir davon?«
»Zeit zu gewinnen«, antwortete der Gefangene.
Und im selben Augenblick schüttelte er die Stricke ab. Er war jetzt nur mehr mit einem Bein an das Bett gebunden.
Bevor die sieben Männer Zeit gefunden hatten, sich auf ihn zu werfen, hatte er die Hand nach dem Kamin ausgestreckt, und jetzt sahen Thénardier und die Banditen, die erschrocken zurücksprangen, wie er den weißglühenden Meißel drohend schwang.
Bei der gerichtlichen Untersuchung, die später im Gorbeauschen Hause stattfand, wurde ein Soustück gefunden, das mit dem Fleiß, den nur Bagnosträflinge aufbringen, der Länge nach gespalten worden war. Diese schrecklichen und doch erstaunlichen Werke der Kunstfertigkeit stellen im Bereich des Kunstgewerbes ungefähr dasselbe dar wie die oft so farbenprächtigen Bilder der Verbrechersprache in der Poesie. Es gibt im Bagno Leute von der Art eines Benvenuto Cellini, so wie es in der Kunstsprache einen Villon gibt. Unselige, die zu entspringen suchen, finden, zuweilen ohne die geringste Hilfe und ohne alles Werkzeug, Mittel und Wege, einen Sou in zwei dünne Scheiben zu zerschneiden. Ein altes Messer muß ihnen genügen, um dieses Wunderwerk zu vollbringen. Dann wird in die Spalte eine Uhrfeder gesteckt und am Rande der Münze eine kleine Schraube angebracht, so daß sie wieder zusammengelegt werden können. Jetzt dient sie als Medaillon.
Offenbar hatte der Gefangene die Uhrfeder, die als Säge diente, aus der Münze genommen, die er vielleicht während seiner Fesselung in der Hand hielt, und so seine Stricke zersägt. Das ist wohl die Erklärung für das leise Geräusch, das Marius beobachtet
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