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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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währte nicht lange. Bald trat die Neugierde an ihre Stelle.
    Ach, wir wollen erst sehen, sagte sie sich.
    Sie hob den Stein auf, der ziemlich schwer war, und fand darunter einen Brief.
    Der Umschlag war aus weißem Papier. Cosette griff danach.Keine Adresse, kein Siegel. Aber wenn der Umschlag auch offen war, so enthielt er doch ein Blatt Papier.
    Die Schrift gefiel Cosette.
    Sie suchte nach einer Unterschrift, fand aber keine. Auch die Anrede fehlte. An wen richtete sich dieses Schreiben? An sie doch offenbar, da es auf ihre Bank gelegt wurde. Und von wem kam es? Ein unwiderstehlicher Drang überkam sie, den Brief zu lesen. Sie suchte wohl ihren Blick wegzuwenden, sah den Himmel an, blickte auf die Straße hinaus, beobachtete einen Augenblick lang die Tauben auf dem Dach des Nachbarhauses; schließlich aber fiel ihr Blick doch auf das Blatt, und sie dachte, sie müsse doch wissen, was darauf stehe. Und sie las folgendes:
    »Gott kann dem Glück derer, die lieben, nur noch eines hinzufügen – Ewigkeit. Nach einem Leben der Liebe eine Ewigkeit der Liebe, das bedeutet in der Tat noch eine Steigerung. Aber es ist unmöglich, das Glück selbst zu steigern, das die Liebe uns auf dieser Welt vermittelt – selbst Gott kann das nicht. Er ist die Fülle des Himmels, aber die Liebe ist die Fülle des Menschlichen.«
Nachdem der Brief gelesen
    Süße Gedanken bemächtigten sich Cosettes. Als sie aufblickte, spazierte gerade der schöne Offizier mit triumphierender Miene an dem Gitter vorüber. Cosette fand ihn abscheulich.
    Wieder las sie das Blatt.
    Es war ein Brief ohne Anschrift, ohne Namenszeichnung, Datum, zugleich dringlich und doch uninteressiert, eine rätselhafte Mischung aus Liebesbotschaft und Betrachtung, ein Rendezvous, gegeben in einer anderen Welt.
    Wer mochte diese Zeilen geschrieben haben?
    Cosette zögerte nicht einen Augenblick.
    Nur er!
    Jetzt tagte es in ihrem Geiste. Alles tauchte wieder aus der Vergessenheit auf. Sie empfand eine unerhörte Freude und doch eine tiefe Angst. Er war es, er schrieb ihr! Sein Arm hatte durch das Gitter gelangt! Sie hatte ihn vergessen, er hatte sie wiedergefunden. Aber hatte sie ihn denn wirklich vergessen? Nein, niemals! Sie wareinen Augenblick lang so toll gewesen, es selbst zu glauben, weiter nichts. Als sie das drittemal das Blatt durchstudiert hatte, erschien wieder Leutnant Théodule und klirrte mit den Sporen. Cosette mußte aufblicken. Sie fand ihn jetzt langweilig, nichtssagend, sehr häßlich und unverschämt. Der Offizier glaubte, ihr zulächeln zu müssen. Ärgerlich wandte sie sich ab. Am liebsten hätte sie ihm etwas an den Kopf geworfen.
    Dann lief sie in das Haus, schloß sich in ihr Zimmer ein, las das Blatt wieder und wieder, bis sie es auswendig konnte. Dann küßte sie es und steckte es in ihr Korsett.
Die Alten sind dazu da, rechtzeitig fortzugehen
    Als es Abend wurde, ging Jean Valjean aus. Cosette aber kleidete sich an. Sie ordnete ihre Haare zu ihrer besten Frisur, zog ein besonders hübsches Kleid an, ohne recht zu wissen warum.
    Wollte sie ausgehen? Erwartete sie Besuch? Nein.
    Als es dunkelte, ging sie in den Garten. Toussaint war noch in der Küche beschäftigt, die auf den Hinterhof hinausging.
    Sie kam zu ihrer Bank. Der Stein lag noch immer da. Sie setzte sich und legte ihre weiße Hand auf den Stein, als ob sie ihn streicheln und ihm danken wollte.
    Plötzlich fühlte sie, daß jemand hinter ihr stand.
    Sie wandte sich um und stand auf.
    Er war es.
    Er trug keinen Hut. Ihr schien, daß er blaß und mager war. In der Dunkelheit konnte man seinen schwarzen Anzug kaum erkennen. Die Dämmerung ließ seine schöne Stirn fahl, seine Augen beschattet erscheinen. Etwas an ihm erinnerte, kaum durch sein sanftes Wesen gemildert, an Tod und Nacht.
    Cosette brachte kein Wort über die Lippen. Langsam trat sie zurück, denn sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Auch er rührte sich nicht. Sie fühlte seinen Blick, ohne selbst die Augen zu ihm aufzuschlagen.
    Jetzt lehnte sie sich an einen Baum. Wäre dieser Baum nicht dagewesen, gewiß wäre sie umgesunken.
    Und jetzt hörte sie seine Stimme, diese nie gehörte Stimme, die das leise Rauschen des Laubes kaum übertönte.
    »Verzeihen Sie, daß ich gekommen bin. Ich mußte, denn ich konnte nicht so weiterleben. Haben Sie den Brief gelesen, den ich hier auf diese Bank legte? Erkennen Sie mich noch? Fürchten Sie sich nicht vor mir. Es ist lange her seit damals … erinnern Sie sich noch an den Tag im

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