Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Luxembourg, neben der Statue des Gladiators? Es muß ein Jahr sein seit damals. Ich habe die Frau, die dort die Stühle vermietet, gefragt, aber sie sagte, sie hätte Sie nicht mehr gesehen. Sie wohnten damals Rue de l’Ouest, in einem netten Haus, im dritten Stock. Sehen Sie, daß ich es weiß? Ich bin Ihnen nachgegangen, damals. Was sollte ich auch sonst tun? Aber dann sind Sie verschwunden. Einmal saß ich unter den Arkaden des Odéon und las Zeitungen, da glaubte ich Sie zu sehen. Ich lief Ihnen nach – aber ich hatte mich getäuscht. Es war nur derselbe Hut. Jetzt komme ich nachts immer hierher. Fürchten Sie sich nicht, niemand sieht mich. Ich will nur Ihre Fenster aus der Nähe sehen. Ich gehe ganz leise, damit Sie mich nicht hören und keine Angst bekommen. Unlängst stand ich hinter Ihnen, da haben Sie sich umgewandt. Sofort bin ich davongelaufen. Einmal hörte ich Sie singen und war glücklich. Macht es Ihnen etwas, wenn ich Sie singen höre? Es kann Ihnen doch nichts daran liegen, nicht wahr? Wenn Sie wüßten, wie ich Sie liebe! Verzeihen Sie mir, daß ich so spreche, aber ich weiß selbst nicht, was ich sage. Vielleicht kränke ich Sie.«
Die Beine versagten ihr den Dienst.
Er fing sie in seinen Armen auf und drückte sie an seine Brust, ohne zu wissen, was er tat. Er selbst taumelte, während er sie hielt. Ihm war, als ob sich ein Nebel vor seine Augen breite. Blitze zuckten zwischen seinen Brauen. Ihm war, als ob hier eine religiöse Handlung vollzogen werde und als ob er etwas Heiliges verletze. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihr Herz. Er fühlte das Blatt Papier und stammelte:
»Lieben Sie mich denn?«
Fast unhörbar antwortete sie:
»Schweig doch! Du weißt es.«
Sie dachte nicht daran, ihn zu fragen, wie er hierhergekommen war. Alles erschien ihr so einfach, es war so selbstverständlich, daß er bei ihr war!
Allmählich begannen sie zu sprechen. Der Bann der Stummheit war gebrochen. Sie vertrauten sich ihre Geheimnisse an, erzählteneinander von ihrer Liebe, alles, was die Jugend und der Rest ihrer Kindlichkeit ihnen zuflüsterte.
Als sie alles gesagt hatten, legte das Mädchen ihren Kopf auf Marius’ Schulter und fragte:
»Wie heißen Sie?«
»Marius.«
»Ich heiße Cosette.«
Viertes Buch
Der kleine Gavroche
Der Wind spielt einen bösen Streich
Nach 1823, während die Herberge in Montfermeil langsam zugrunde ging, hatten die Thénardiers noch zwei Kinder bekommen: zwei Knaben. Also hatten sie insgesamt deren fünf, zwei Mädchen und drei Jungen.
Es war genug.
Die Thénardier entledigte sich der beiden Jüngsten bald. Ein eigentümliches Glück begünstigte sie dabei.
Bei der Thénardier war die Natur gewissermaßen nur ein Bruchstück. Wie die Marschallin de la Motte-Haudancourt, war die Thénardier nur die Mutter ihrer Töchter. In ihnen erschöpfte sich ihr Gefühl. Ihr Menschenhaß traf auch ihre Söhne. Den Ältesten verabscheute sie. Die beiden Jüngsten waren ihr unerträglich.
Warum?
Darum.
Jetzt wollen wir berichten, wie die Thénardiers sich ihrer beiden jüngsten Kinder entledigten und daraus noch Nutzen zogen.
Jene Magnon, von der wir bereits berichteten, daß sie mit der Bande Patron-Minette in Verbindung stand, war früher einmal Magd im Hause des alten Gillenormand. Von ihm hatte sie zwei Kinder bekommen. Der Leser erinnert sich vielleicht der großen Epidemie, die damals, vor fünfunddreißig Jahren, die Quartiere an der Seine heimsuchte und die Anlaß zu bedeutsamen Errungenschaften der ärztlichen Wissenschaft war. Durch diese Epidemie verlor Magnon am gleichen Tage ihre beiden Kinder. Das war ein schwerer Schlag, denn die Kleinen waren der Mutter sehr wertvoll, stellten sie doch eine monatliche Rente von achtzig Franken dar. Dieser Betrag wurde im Auftrage des Herrn Gillenormand von Herrn Barge, Rentenempfänger, Rue du Roy-de-Sicile, außerordentlich pünktlich ausgezahlt. Mit den Kindern war auch die Rente begraben.
Magnon suchte Ersatz. In dieser Verbrechergesellschaft, der sieangehörte, weiß jeder von jedem alles, hält jeder reinen Mund, hilft einer dem andern. Magnon brauchte zwei Kinder, die Thénardier hatte zwei zu vergeben. Alter und Geschlecht stimmten. Beide Teile konnten zufrieden sein. Die kleinen Thénardiers wurden kleine Magnons. Zur Sicherheit zog Magnon in die Rue Cloche-Perce. In Paris wird man vergessen, wenn man in ein anderes Quartier zieht.
Die Verwaltungsbehörde hatte nichts von der Sache erfahren, so daß die
Weitere Kostenlose Bücher