Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
entzündet.
Es gab eine Zeit, da Cosette, ohne es zu wissen, mit ihren Blicken Marius beunruhigte, während auch Marius nicht ahnte, daß sein Blick auf Cosette wirkte.
Schon lange beobachtete das Mädchen ihn, wie junge Mädchen es eben tun: indem sie anderswohin sah. Marius fand Cosette noch häßlich, als sie bereits bemerkt hatte, daß er gut aussah. Aber da er ihr keine Aufmerksamkeit schenkte, blieb sie gleichgültig.
Als dann eines Tages ihre Augen einander begegneten und erzählten, was unaussprechlich ist, begriff Cosette zunächst nichts. Sie war nur nachdenklich, als sie in das Haus in der Rue de l’Ouest zurückkehrte, in dem Jean Valjean damals gerade für sechs Wochen Quartier genommen hatte. Als sie am nächsten Morgen erwachte, erinnerte sie sich des jungen Unbekannten, der so lange gleichgültig geblieben war und sie jetzt beobachtete; doch schien ihr, diese Aufmerksamkeit sei ihr gar nicht angenehm. Eher fühlte sie sich bereit, zu zürnen. Ein kriegerischer Instinkt regte sich in ihr. Zu lange hatte er sie übersehen. Sie empfand eine noch ganz kindliche Freude, daß sie jetzt Rache üben konnte.
Sie wußte, daß sie schön war, und ahnte, daß diese Schönheit ihr als Waffe dienen konnte. Die Frauen spielen mit ihrer Schönheit wie Kinder mit dem Messer. Sie verwunden sich selbst.
Man wird sich erinnern, wie schüchtern und verängstigt Marius war. Er blieb auf seiner Bank und wagte sich nicht vor. Das verstimmte Cosette. Eines Tages sagte sie zu Jean Valjean:
»Vater, komm, gehen wir einmal da entlang.«
Da Marius nicht zu ihr kam, ging sie zu ihm. Und seltsam genug, das erste Zeichen wahrer Liebe ist beim Mann die Schüchternheit, beim Mädchen der Mut. Das mag wunderlich scheinen, und doch ist es das Einfachste der Welt. Die beiden Geschlechter wollen sich einander nähern, jedes nimmt die Eigentümlichkeiten des andern an.
An diesem Tag machte Cosettes Blick Marius toll, und zugleich zitterte Cosette unter dem Blick Marius’. Er ging von dannen, neu ermutigt, sie tief beunruhigt. Und von diesem Tage an liebten sie einander.
Kummer
Situationen erzeugen im Menschen die entsprechenden Instinkte. Die alte Mutter Natur benachrichtigte rasch Jean Valjean vom Auftreten Marius’. Er zitterte bis in die dunkelsten Tiefen seines Herzens. Er sah nichts, wußte nichts, spähte aber mißtrauisch in dem Dunkel, in dem er sich befand, um sich, als ob er fühle, daß hier ein alter Bau zusammenstürze und ein neuer aufgerichtet werde. Zugleich aber empfing Marius eine Warnung seines Instinkts und bemühte sich, dem »Vater« so wenig als möglich in die Quere zu kommen. Dennoch geschah es, daß Jean Valjean ihn zuweilen bemerkte. Marius’ Gehaben war alles andere als natürlich. Er zeigte eine bedenkliche Vorsicht und eine linkische Keckheit. Auch kam er jetzt nicht mehr so nahe heran wie früher. Weit ab nahm er Platz und blieb wie verzückt sitzen. Auch brachte er ein Buch mit und tat, als ob er lese. Warum verstellte er sich?
Früher hatte er einen alten Anzug getragen, jetzt erschien er täglich in festlichem Gewande; es war nicht einmal sicher, daß er sich nicht die Haare kräuseln ließ: er machte komische Augen, ja, er trug Handschuhe!
Jean Valjean verabscheute diesen jungen Mann aus ganzem Herzen.Cosette ließ sich nichts anmerken. Sie wußte selbst kaum, was sie empfand, aber ihr Instinkt sagte ihr, daß sie ihre Gefühle verheimlichen mußte.
Jedenfalls bestand zwischen der plötzlich erwachten Neigung Cosettes für gute Kleider und der feiertäglichen Gewandung des jungen Mannes ein Parallelismus, der Jean Valjean mißfiel. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, beruhte er auf einem Zufall, aber dieser Zufall schien bedrohlich.
Niemals sprach er zu Cosette von diesem Unbekannten. Eines Tages aber konnte er sich nicht länger halten und sagte in einem Anfall unklarer Verzweiflung, die zuletzt das eigene Unheil heraufbeschwört:
»Dieser junge Mann sieht aber sehr pedantisch aus!«
Vor einem Jahr noch hätte Cosette als gleichgültiges junges Mädchen geantwortet: »Aber nein, er ist reizend.« Zehn Jahre später hätte sie vielleicht gesagt: »Pedantisch und unerträglich, du hast recht.« In ihrem augenblicklichen Zustand aber beschränkte sie sich darauf, mit erheuchelter Ruhe zu sagen: »Ach, der da!«
Als ob sie ihn zum erstenmal bemerkt hätte.
Wie dumm ich war, dachte Jean Valjean, sie hatte ihn noch gar nicht bemerkt. Ich mache sie noch auf den Menschen aufmerksam.
O
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