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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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rührende Einfalt der Alten, o ahnungsvoller Verstand der Kinder!
    Jean Valjean begann einen geheimen Krieg gegen Marius zu führen, den dieser in der erhabenen Torheit seiner Leidenschaft und seines Alters nicht bemerkte. Der Greis legte ihm eine Menge von Fallen. Er kam zu verschiedenen Zeiten in den Park, wechselte die Bank, verlor sein Taschentuch, kam schließlich sogar allein; wie mit verbundenen Augen stolperte Marius in jede Falle. Sooft Jean Valjean ein tückisches Fragezeichen in seinen Weg stellte, antwortete er harmlos »ja«. Cosette ließ sich inzwischen nicht aus ihrer scheinbaren Sorglosigkeit und unbeirrbaren Ruhe herauslocken, so daß Jean Valjean schließlich zu dem Schlusse kam: dieser alberne Bursche ist bis über die Ohren in Cosette verliebt, aber sie hat ihn noch gar nicht bemerkt.
    Ein einziges Mal beging sie einen Fehler und alarmierte ihren Vater. Nach dreistündigem Verweilen auf der Bank stand er auf, um nach Hause zu gehen. Da sagte sie:
    »Schon?«
    Das übrige ist dem Leser bekannt. Marius fuhr fort, sich möglichst ungeschickt zu benehmen. Eines Tages folgte er Cosette in die Rue de l’Ouest. Ein andermal sprach er gar mit dem Pförtner. Dieser seinerseits verständigte Jean Valjean darüber.
    »Herr«, sagte er, »wer ist der junge, neugierige Mann, der Sie ausforscht?«
    Am nächsten Tag warf Jean Valjean Marius einen Blick zu, den dieser endlich begriff. Und acht Tage später war Jean Valjean umgezogen. Er schwor, den Luxembourg-Garten nie mehr zu betreten und die Rue de l’Ouest zu meiden. Er kehrte in die Rue Plumet zurück.

Drittes Buch
dessen Anfang nicht dem Ende gleicht
Ein Idyll der Einsamkeit und eine Kaserne benachbart
    Seit vier oder fünf Monaten hatte Cosette Marius nicht gesehen. Ohne es selbst zu bemerken, hatte sie sich beruhigt. Die Natur, der Frühling, die Jugend, Liebe zu ihrem Vater, endlich der fröhliche Gesang der Vögel und die heitere Frische der Blumen ließen allmählich, Tropfen für Tropfen, einen Balsam in die Seele dieser Jungfrau träufeln, der dem Vergessen nicht unähnlich war. Erlosch ihr Feuer? Glomm es unter der Asche?
    Tatsache ist, daß sie wenigstens den heftigen Schmerz nicht mehr fühlte.
    Eines Tages erinnerte sie sich plötzlich Marius’.
    Ach, dachte sie, ich denke ja kaum mehr an ihn.
    In derselben Woche bemerkte sie, daß ein sehr smarter Offizier der Lanzenreiter mit Wespentaille, entzückender Uniform, Schleppsäbel, aufgedrehtem Schnurrbart und lackierter Tschapka an dem Gitter ihres Gartens vorbeispazierte. Überdies hatte er blonde Haare, blaue Augen, ein rundes, hübsches und unverschämtes Gesicht; in nichts glich er Marius.
    Schon am nächsten Tag kam er wieder vorbei. Sie merkte sich, um welche Stunde dies geschah.
    Und von diesem Tag an spazierte er (war es Zufall?) fast täglich an dem Gitter vorüber.
    Die Kameraden des Offiziers bemerkten, daß es in diesem »verwahrlosten« Garten hinter dem alten Rokokogitter ein recht hübsches Mädchen gab, das fast immer zu sehen war, wenn der fesche Leutnant vorüberkam – dieser Leutnant, den unsere Leser bereits kennen und der Théodule Gillenormand hieß.
    »Hast du denn die Kleine nicht bemerkt«, fragten sie, »die dir immer Augen macht?«
    »Hab ich denn Zeit dazu, alle Mädel zu bemerken, die mir Augen machen?« erwiderte der Lanzenreiter.
Cosette in Angst
    In der ersten Hälfte des Monats April unternahm Jean Valjean eine Reise. Das geschah, wie unsere Leser bereits wissen, von Zeit zu Zeit, in sehr langen Zwischenräumen. Er blieb dann ein oder höchstens zwei Tage außerhalb. Wohin er ging? Das wußte niemand, auch Cosette nicht.
    Jean Valjean war also abwesend.
    Am Abend befand sich Cosette allein im Salon. Um sich zu zerstreuen, setzte sie sich an das Harmonium.
    Als sie genug gespielt hatte, blieb sie nachdenklich sitzen. Plötzlich war ihr, als ob sie im Garten Schritte höre. Ihr Vater konnte es nicht sein, denn er war ja verreist. Und Toussaint lag bereits im Bett. Es war zehn Uhr abends.
    Sie trat an den verschlossenen Fensterladen des Salons und legte das Ohr daran. Jetzt glaubte sie den Schritt eines Mannes zu erkennen, der durch den Garten schlich.
    Rasch eilte sie in den ersten Stock und öffnete ein kleines Fensterchen, um in den Garten hinabzuschauen. Der Vollmond warf sein Licht strahlend auf den Garten. Es war taghell.
    Niemand zu sehen.
    Sie öffnete das Fenster. Der Garten lag in tiefstem Frieden, und so weit man die Straße von hier aus überschauen

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