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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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und aus starken Stangen bestand. Die Einfassung war beim Aufreißen des Pflasters zerstört worden, so daß es lose dalag. Durch das Gitter konnte man durch ein dunkles Loch hinabsehen wie in eine Zisterne.
    Jean Valjean trat näher. Seine alte Erfahrung im Entspringen aus Gefängnissen bewirkte, daß blitzhaft ein Gedanke in ihm erwachte.Die behinderlichen Pflastersteine beiseite stoßen, das Gitter emporheben, den ohnmächtigen Marius auf seine Schultern laden, in den tiefen Schacht hinabspringen – alles das war die Sache weniger Sekunden. Im nächsten Augenblick hatte er das Eisengitter wieder über seinen Kopf herabfallen lassen.
    Jean Valjean stand mit Marius in einem langen, unterirdischen Korridor. Hier war Friede, Schweigen und Nacht.
    Wieder hatte er jene Empfindung, die er ausgekostet hatte, als er damals von der Straße in das Kloster sprang. Nur trug er heute nicht Cosette, sondern Marius.
    Wie aus unendlicher Ferne, einem leisen Murmeln gleich, hörte er aus dem Wirtshaus, das eben erstürmt wurde, den Lärm des Kampfes herüber.

Zweites Buch
Im Reich des Kotes
Die Kloake
    Jean Valjean befand sich in den Kloaken von Paris.
    Der Übergang war unerhört. Eben noch inmitten der Stadt, war er plötzlich, in einem Augenblick, in der Zeit, die man benötigt, ein Gitter zu heben und wieder zufallen zu lassen, aus hellstem Tageslicht in tiefste Finsternis hinabgetaucht, aus furchtbarem Getöse in lautlose Stille, aus entsetzlicher Gefahr in vollkommene Sicherheit.
    Der Verwundete bewegte sich immer noch nicht. Jean Valjean wußte nicht, ob er einen Lebenden gerettet oder einen Toten in die Grube getragen hatte.
    Das erste Gefühl, das sich seiner bemächtigte, war das der vollständigen Blindheit. Plötzlich sah er nichts mehr. Und zugleich schien es ihm, er sei taub geworden. Nichts fühlte er, als daß er festen Boden unter den Füßen hatte – das war alles, aber für den Augenblick genügte es.
    Er streckte erst den linken, dann den rechten Arm aus, betastete zu beiden Seiten das Gemäuer und erkannte, daß er sich in einem engen Gang befand. Da er leicht ausglitt, erriet er, daß der Boden feucht war. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor, denn er befürchtete ein Loch, eine Senkgrube. Aber die Pflasterung setzte nicht aus. Ein widerlicher Kotgeruch ließ ihn erraten, wo er sich befand.
    Einige Augenblicke später war er schon nicht mehr blind. Schwaches Licht fiel durch die Öffnung, die auch ihn eingelassen hatte, herab; sein Auge hatte sich an die Finsternis gewöhnt. Er begann Einzelheiten zu unterscheiden. Der Gang, in den er geraten war, war hinter ihm vermauert. Eine Art Sackgasse. Vor sich sah er eine andere Mauer – die Mauer der Dunkelheit. Das spärliche Licht reichte nur zehn oder zwölf Schritte weit. Dann kam die dichteste Finsternis. Und doch mußte Jean Valjean weitergehen, mußte sich sogar beeilen. Das Gitter, das er bemerkt hatte, konnte auch von den Soldaten beachtet werden. Vielleicht stiegen einige durch den Schacht herab und durchsuchten ihn. Keine Minute war zu verlieren.Er hatte Marius auf den Boden gelegt. Jetzt hob er ihn auf, lud ihn auf seine Schultern und begann zu gehen. Entschlossen marschierte er in die Dunkelheit hinein.
    Schon nach fünfzig Schritten mußte er haltmachen. Eine Frage drängte sich ihm auf; der Gang mündete hier in einen anderen, der ihn senkrecht schnitt. Nach welcher Seite, nach links oder nach rechts, sollte er weitergehen? Wie sich in diesem Labyrinth der Finsternis orientieren?
    Aber dieses Labyrinth hat seinen Ariadnefaden: das Gefälle. Folgte er dem Gefälle, so mußte er an das Ufer der Seine gelangen.
    Jean Valjean begriff sofort.
    Offenbar befand er sich gerade in den Kanälen unter der Markthalle. Er bog also nach links ab und dachte, er müsse binnen einer Viertelstunde zu einer der Mündungen zwischen dem Pont-au-Change und dem Pont-Neuf gelangen. Plötzlich würde er in einer der belebtesten Gegenden von Paris aus dem Erdboden aufsteigen. Die Passanten würden nicht wenig erstaunt sein, zu ihren Füßen zwei blutbefleckte Menschen auftauchen zu sehen. Es konnte nur einige Sekunden dauern, dann würden die Polizisten und Wachleute herbeieilen. Man war verloren, bevor man ganz aus der Grube aufgestiegen war.
    Da war es noch besser, tiefer in das Labyrinth einzudringen und es der Vorsehung zu überlassen, wo man wieder einen Ausgang fände.
    Jetzt ging er gegen das Gefälle.
    Schon nachdem er die nächste Ecke umgangen hatte, befand er sich

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