Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
Vom Netzwerk:
wurde, fünf Finger verlor.
    Marius war draußen geblieben. Eine Kugel hatte sein Schlüsselbein zerschmettert. Er fühlte noch, wie ihm die Besinnung schwand – dann fiel er. Er hatte die Augen schon geschlossen, als er spürte, wie eine kräftige Hand ihn wieder hochriß. Doch blieb ihm noch die Zeit, an Cosette zu denken und zu begreifen, daß er nun gefangen und füsiliert werden würde.
    Als Enjolras sah, daß Marius nicht unter den Leuten war, die sich in das Wirtshaus gerettet hatten, glaubte auch er seinen Freund gefangen und verloren. Aber in solchen Augenblicken bleibt jedem nur die Zeit, an seinen eigenen Tod zu denken. Er verriegelte die Tür und schob die Querstange vor, während Soldaten und Sappeure von draußen mit Äxten und Gewehrkolben an sie schlugen. Jetzt waren alle Angreifer um diese Tür versammelt. Die Belagerung des Wirtshauses begann.
    Wir müssen feststellen, daß die Soldaten wütend waren. Der Tod des Artilleriesergeanten hatte sie erbittert. Überdies war, traurig genug, unter ihnen vor Beginn des Sturmes das Gerücht verbreitet worden, die Insurgenten hätten Gefangene verstümmelt. Es hieß sogar, in dem Wirtshaus liege die Leiche eines Soldaten ohne Kopf. Solche gefährlichen Ausstreuungen sind im Bürgerkrieg üblich.
    Nachdem die Türe verbarrikadiert war, sagte Enjolras zu den andern:
    »Jetzt wollen wir unser Leben so teuer wie möglich verkaufen.«
    Wir wollen nur einen kurzen Bericht geben. Die Barrikade war verteidigt worden wie einst die Tore von Theben. Nun kämpfte man um das Wirtshaus wie einst um die Häuser von Saragossa. Der Widerstand war erbittert. Jetzt konnte nicht mehr parlamentiert werden. Man wollte sterben, aber auch töten. Es hieß: nach dem Kampf der Kanonen der aufs Messer. Auch in diesem Kampf fehlte es nicht an Pflastersteinen, die aus den Fenstern geschleudert wurden und den Soldaten furchtbare Wunden zufügten, nicht an tückischen Schüssen aus Mansarden und Gucklöchern, nicht an fürchterlicher Metzelei, als endlich das Tor erbrochen war. Die Belagerer drangen in dem Wirtshaus vor, fanden aber zunächst keinen Verteidiger. Die Treppe war von den Insurgenten mit Äxten abgebrochen worden. Einige Verwundete lagen umher und rangen mit dem Tode. Die übrigen hatten sich in den ersten Stock zurückgezogen und schossen durch Löcher, die sie in die Decke gebrochen hatten, auf die Angreifer herab. Das waren die letzten Kugeln.
    Als sie verschossen waren, als es an Pulver und Patronen fehlte, nahm jeder zwei von den Flaschen, die Enjolras zurückgestellt hatte, und bedrohte die Angreifer mit diesen fürchterlichen Keulen. Denn diese Flaschen enthielten Scheidewasser. Es war ein furchtbares Getöse. Obwohl die Angreifer, die aus dem Erdgeschoß in den ersten Stock hinaufschießen mußten, sehr behindert waren, wirkte ihr Feuer mörderisch. Bald waren am Rande des Zugangs über der Treppe Köpfe von Toten zu sehen, aus denen rauchendes Blut herabströmte. Die Sprache besitzt keine Worte, um das Entsetzen zu schildern, das in diesem Raum herrschte. Hier kämpften nicht mehr Menschen gegen Menschen, hier kämpften Teufel gegen Gespenster. Das Heldentum entartete zum Greuel.
Ein nüchterner Orestes und ein betrunkener Pylades
    Endlich drangen etwa zwanzig von den Angreifern, Soldaten, Nationalgardisten und Munizipalgardisten bunt durcheinandergemischt, alle bluttriefend und rasend vor Wut, in den ersten Stock ein; an den Trümmern der Wendeltreppe waren sie hinaufgeklettert.
    Sie fanden nur noch einen einzigen Mann vor, der aufrecht stand: Enjolras. Er besaß keine Kugeln mehr und keinen Degen. Nur den Lauf einer Flinte, deren Kolben er an dem Schädel eines Angreifers zerschmettert hatte, hielt er in Händen. Er hatte den Billardtisch zwischen sich und die Angreifer gebracht. Jetzt stand er in der Ecke des Saales, stolz, mit erhobenem Haupte, den Stumpf der Waffe in Händen, noch immer so drohend, daß die Angreifer den Abstand von ihm wahrten.
    »Das ist der Führer!« wurde gerufen. »Er ist es, der den Artilleristen erschossen hat. Er steht da ganz gut, wir können ihn gleich hier füsilieren.«
    »Los!« befahl Enjolras.
    Der Mut im Angesicht des Todes läßt keinen Menschen kalt. Auch jetzt, als Enjolras mit gekreuzten Armen vor seinen Feinden stand, verbreitete sich tödliche Stille. Es war ein feierlicher Augenblick. Enjolras schien mit majestätischer Geste seine Feinde zu zwingen, ihn zu töten – aber ehrfürchtig.
    Zwölf Mann traten in der

Weitere Kostenlose Bücher