Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Bogentür, ein Gitter, das allem Anschein nach sich nur selten in seinen stark oxydierten Angeln drehte. An der Steineinfassung hing eines jener dicken, verrosteten Schlösser, die man im alten Paris so gern benützte.
Jenseits des Gitters frische Luft, der Fluß, hellichter Tag, ein schmaler Weg, der immerhin genügte, um sich auf ihm fortzubewegen, in der Ferne Paris – die Freiheit.
Er befand sich an einer der einsamsten Gegenden der Stadt, an dem Ufer gegenüber dem Gros-Caillou. Fliegen schwirrten durch das Gitter.
Es mochte neun Uhr abends sein. Der Tag ging zu Ende.
Jean Valjean legte Marius längs der Wand auf eine trockene Stelle des Bodens, trat an das Gitter und rüttelte mit den Fäusten daran.Es rührte sich nicht. Jean Valjean nahm eine der Stangen nach der anderen vor, hoffte eine zu lockern oder das Schloß abzureißen. Aber die Stangen saßen fest wie die Zähne eines Tigers. Es war unmöglich, die Tür zu öffnen.
Alles war zu Ende. Jean Valjean hatte sich unnütz geplagt. Gott wollte nicht, daß er gerettet wurde.
Ein abgerissener Fetzen Tuch
Während er in tiefster Niedergeschlagenheit dasaß, griff eine Hand nach seiner Schulter und eine leise Stimme sagte:
»Halbpart!«
Jean Valjean glaubte zu träumen.
Er blickte auf, ein Mann stand vor ihm.
Dieser Mensch trug eine Arbeiterbluse und ging barfuß; seine Schuhe trug er in der linken Hand. Offenbar hatte er sie ausgezogen, um unbemerkt näher kommen zu können.
Jean Valjean zögerte einen Augenblick. Diese Begegnung kam ihm unerwartet, aber den Mann kannte er. Es war Thénardier.
Auf der Stelle gewann er seine Geistesgegenwart wieder. Auch konnte sich die Lage, in der er sich befand, kaum noch verschlimmern, denn es gibt einen Grad des Entsetzlichen, der kein Crescendo kennt. Auch ein Thénardier konnte die Dunkelheit der Nacht nicht mehr verfinstern.
Jean Valjean merkte sofort, daß der Bandit ihn nicht erkannte.
Thénardier brach das Schweigen.
»Wie willst du hier rauskommen?«
Jean Valjean antwortete nicht.
»Du wirst diese Tür nicht aufbringen. Aber du willst doch raus?«
»Natürlich.«
»Gut, Halbpart.«
»Was soll das?«
»Du hast den Mann da umgebracht. Gut. Ich habe den Schlüssel. Ich kenne dich nicht, aber ich werde dir helfen. Du scheinst einer von den Freunden zu sein.«
Jean Valjean begann zu begreifen. Thénardier hielt ihn für einen Mörder.
»Hör, Kamerad«, fuhr dieser fort, »du hast diesen Kerl dochnicht umgebracht, ohne dir vorher seine Taschen anzusehen. Gib mir die Hälfte, dann öffne ich dir die Tür.«
Er zog einen großen Schlüssel aus seiner zerfetzten Bluse.
Jean Valjean war vollkommen verblüfft. Die Vorsehung hatte hier eine scheußliche Gestalt angenommen, der Rettungsengel hatte sich als Thénardier verkleidet.
Thénardier fuhr jetzt mit der Hand in seine Tasche und zog einen langen Strick hervor.
»Da, den Strick geb ich auch noch drauf.«
»Was soll mir der Strick?«
»Dann brauchst du auch noch einen Stein, aber den findest du draußen. Daran ist hier kein Mangel.«
»Aber was soll ich mit dem Strick und dem Stein?«
»Trottel, du willst doch den Kerl ins Wasser werfen! Dazu brauchst du einen Strick und einen Stein, sonst schwimmt er.«
Jean Valjean nahm den Strick. Seine Gebärde war fast mechanisch.
Jetzt schnippte Thénardier mit den Fingern, als ob ihm ein plötzlicher Gedanke käme.
»Übrigens, wie bist du über das Schlammloch gekommen, Kamerad? Ich hab mich nicht darüber getraut. Puh, du riechst aber nicht fein!«
Und da er keine Antwort bekam, fuhr er fort:
»Ach, ich frage immer, und du antwortest nicht. Sehr gescheit. Du bereitest dich auf das Viertelstündchen vor dem Untersuchungsrichter vor. Wer nichts sagt, plaudert auch nichts aus. Aber sei unbesorgt, ich kann in dieser Finsternis dein Gesicht nicht erkennen und weiß auch nicht, wie du heißt. Darum ist es doch unrecht von dir, zu glauben, daß ich nicht weiß, wer du bist und was du willst. Wir kennen uns. Du hast diesen Herrn da kaltgemacht, und jetzt möchtest du ihn irgendwo verschwinden lassen. Du suchst den Fluß, in dem ja jede Dummheit untertaucht. Ich werde dich aus der Verlegenheit retten. Einem braven Kerl in der Not beistehen, das ist ganz nach meinem Geschmack.«
Obwohl er Jean Valjean ermuntert hatte zu schweigen, wollte er ihn doch offensichtlich zum Sprechen bringen.
Ȇbrigens, weil wir von dem Schlammloch sprechen, du bist doch ein rechtes Vieh, warum hast du den Kerl nicht da
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