Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
er die Kleider Marius’ durchsucht hatte, waren ihm zwei wichtige Dinge in die Hände gekommen: das Brot, das hier seit gestern vergessen worden war, und Marius’ Portefeuille. Er aß das Brot und warf einen Blick in das Portefeuille. Auf der ersten Seite fand er Marius’ Notiz, deren sich der Leser wohl erinnert und aus der hervorging, daß er Marius Pontmercy hieß und wünsche, sein Leichnam möge zu seinem Großvater, Herrn Gillenormand, in die Rue des Filles-du-Calvaire gebracht werden.
Jean Valjean las das Blatt, blieb einen Augenblick lang nachdenklich stehen und wiederholte leise: Gillenormand, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6. Dann schob er das Portefeuille in Marius’ Tasche. Er hatte gegessen und fühlte sich gestärkt. Also lud er Marius wieder auf seinen Rücken, stützte den Kopf des Ohnmächtigen auf seine rechte Schulter und begann in der Kloake weiter vorzudringen.
Diese Sammelkloake, die dem Talweg von Ménilmontant folgt, ist fast zwei Meilen lang. Beinahe in ihrer ganzen Länge ist sie gepflastert.
Plötzlich aber geriet Jean Valjean in fürchterliche Gefahr.
Das Loch
Er fühlte, daß er in Wasser trat. Jetzt hatte er nicht mehr Pflaster, sondern Schlamm unter den Füßen.
Jean Valjean war in ein Schlammloch geraten.
Es verdankte seine Entstehung dem Wolkenbruch von gestern abend. Das von dem darunterliegenden Sande schwach gestützte Pflaster hatte nachgegeben, die Wassermengen waren eingedrungen und hatten den Boden zum Schwellen gebracht. Das Kanalbett barst und versank in Schlamm.
Wie weit diese gefährliche Strecke war, ließ sich nicht ermessen. Die Dunkelheit war undurchdringlich. Es war ein Kotloch in einer finsteren Höhle.
Jean Valjean fühlte, wie der Boden unter ihm wich. Dennoch drang er weiter in den Bereich des Kotes vor. Er watete in tiefem Wasser, auf dessen Grunde Schlamm war. Zurückgehen war ja unmöglich. Marius lag im Sterben, und Jean Valjean war erschöpft. Auch schien es bei den ersten Schritten, daß das Loch nicht allzu tief war. Aber bald sank er bis zum halben Bein ein, und das Wasser stieg über die Knie. Jetzt hielt er Marius auf beiden Armen, so hoch er konnte. Der Wasserspiegel hob sich bis zum Gürtel. Es gab kein Zurück. Immer weiter drang Jean Valjean vor. Vielleicht hätte der dicke Schlamm das Gewicht eines Mannes getragen, aber zwei Leute waren zu schwer. Marius und Jean Valjean, jeder für sich, hätten der Gefahr entrinnen können.
Und Jean Valjean schritt weiter, den Sterbenden – oder war es schon eine Leiche? – hoch über sich tragend.
Jetzt stieg ihm das Wasser bis über die Achselhöhlen. Er stand schlecht und mußte befürchten, umgerissen zu werden. Auch die Dichtigkeit des Sandes behinderte ihn. Mit äußerster Kraft hob er Marius hoch. Jetzt hatte er nur mehr noch den Kopf über dem Wasserspiegel.
Mit einer verzweifelten Anstrengung stieß er den Fuß vor – und faßte Boden. Ihm war, als ob er die erste Stufe einer Treppe, die zum Leben führte, erreicht hätte.
Die Stütze, die er im kritischen Augenblicke gefunden hatte, war ein Stück des Kanalbettes, das zwar gesunken, aber nicht zerbrochen war. Es stellte jetzt eine Art Rampe dar, auf der Jean Valjean auf die andere Seite des Loches gelangen konnte.
Als er aus dem Wasser stieg, taumelte er und fiel auf die Knie. Erfand, diese Haltung sei im Augenblick die richtigste, und blieb einen Moment im Gebet versunken.
Dann stand er wieder auf, schauernd unter der Eiseskälte, von der Last des Sterbenden gebeugt, triefend von Kot – aber die Seele von himmlischem Licht erleuchtet.
Das Ende der Kloake
Wieder machte er sich auf den Weg.
Es war, als ob er seine Kraft in dem Schlammloch gelassen hätte. Er war erschöpft von der furchtbaren Anstrengung. So müde war er, daß er alle drei oder vier Schritte gezwungen war, Atem zu schöpfen und sich an die Wand zu lehnen.
Verzweifelt drang er wieder hundert Schritte vor, ohne sich umzublicken. So war er an eine Biegung der Kloake gelangt und stand plötzlich am Ende des Ganges. Vor sich sah er, noch weit entfernt, Licht.
Das Licht des Tages. Den Ausgang.
Jetzt spürte Jean Valjean keine Müdigkeit mehr. Das Gewicht Marius’ lastete nicht mehr auf ihm. Wieder waren seine Beine von Stahl. Er lief beinahe. Je näher er kam, um so deutlicher erkannte er die Öffnung.
Im nächsten Augenblick hatte er den Ausgang erreicht.
Hier blieb er stehen.
Es war wohl ein Ausgang, aber er war unbenützbar.
Ein starkes Gitter versperrte die
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