Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
in vollkommener Finsternis. Trotzdem ging er weiter und beeilte sich, so gut es ging. Die beiden Arme Marius’ hatte er um seinen Hals gelegt. Die blutig-klebrige Wange des Verwundeten berührte die seine. Er fühlte, wie ein lauer Strom an ihm hinabrieselte und seine Kleider durchdrang. Doch bewies die feuchte Wärme, die von dem Munde des Verwundeten ausströmte, daß er noch lebte.
Der Gang, in den Jean Valjean eingedrungen war, schien breiter als der vorige. Nur mit großer Mühe konnte er vorwärtskommen. Das Regenwasser von gestern war noch nicht abgeflossen und bildete in der Mitte einen Bach, so daß Valjean sich an die Wand pressen mußte, wenn er nicht im Wasser waten wollte.
Es war nicht leicht, sich hier zu orientieren.
Jean Valjean begann mit einem Irrtum. Er glaubte sich unter der Rue Saint-Denis zu befinden. Dort liegt eine alte Steinkloake, dieLudwig XIII. erbauen ließ und die geradeswegs zu dem Sammelkanal führt. Sie hat nur auf der Höhe des alten Wunderhofs, von rechts her, einen Zugang, die Kloake Saint-Martin. Die Galerie der Petite-Truanderie, deren Eingang gleich neben dem »Corinthe« lag, hatte keine Verbindung mit der Kloake von Saint-Denis, sondern führte nach dem Montmartre. In diese Richtung ging jetzt Jean Valjean.
Er marschierte ängstlich besorgt, aber zugleich ruhig, vollends dem Zufall oder der Vorsehung anheimgegeben, weiter.
Und doch bemächtigte sich seiner allmählich das Grauen. Die Dunkelheit, die ihn rings umgab, drang in seine Seele ein. Er durchquerte einen Bezirk der Rätsel. Schauerlich ist es, mitten in Paris am hellen Tag durch die Finsternis zu irren. Jean Valjean mußte seinen Weg finden, ohne ihn zu sehen. In diesem unbekannten Gebiet konnte jeder Schritt der letzte sein. Würde er einen Ausweg finden? Und wenn ja, würde es beizeiten geschehen? Drang er nicht immer tiefer in ein Labyrinth ein, aus dem er sich nie herausfinden konnte? Sollte Marius dem Blutverlust, er aber dem Hunger erliegen? Würden an dieser Stätte des Abscheus nur zwei Skelette, in einen Winkel gekauert, übrigbleiben?
Plötzlich geschah etwas Seltsames. Obwohl er sich immer in der gleichen Richtung bewegt hatte, mußte er bemerken, daß er jetzt nicht mehr stieg. Jetzt kam das Wasser von hinten, nicht mehr von vorn. Er ging abwärts. Was bedeutete das? Näherte er sich wieder der Seine? Das bedeutete Gefahr, aber zurückzugehen schien noch unmöglicher.
Er marschierte weiter.
Aber es war nicht die Seine, der er sich näherte. Der Erdboden des Teils von Paris, der am rechten Ufer liegt, ergießt seine Gewässer nur zur Hälfte in die Seine, zur anderen aber in eine große Kloake. Der Kamm dieser Wasserscheide bildet eine recht unregelmäßige Linie. Auf seiner Höhe, in der Kloake des Louvre, befand sich jetzt Jean Valjean. Er wandte sich nach der Gürtelkloake und befand sich, ohne es selbst zu wissen, auf dem rechten Weg.
Bald bemerkte er auch, daß er nicht mehr in dem von der Rebellion betroffenen Stadtviertel war: dort hatten die Barrikaden den Verkehr gedrosselt. Jetzt befand er sich unter dem lebendigen, alltäglichen Paris. Über seinem Kopf hörte er, wie aus weiter Ferne, das Rollen der Wagen.
So wanderte er wohl schon seit einer halben Stunde, soweit erselbst die Zeit bestimmen konnte, ohne an Ruhe zu denken. Nur hatte er Marius auf die andere Schulter gelegt. Die Finsternis war tiefer als je, aber gerade sie beruhigte ihn jetzt.
Nach einer kurzen Strecke stieß er auf einen Nebenkanal, der offenbar von der Madeleine herüberkam. Hier machte er halt, denn er war todmüde. Ein ziemlich geräumiges Luftloch läßt hier von der Rue d’Anjou Licht herein. Jean Valjean legte Marius sanft auf eine Steinbank. Das blutige Gesicht des Jünglings glich im weißen Licht dem eines Toten. Er hatte die Augen geschlossen, die Haare klebten an den Schläfen und glichen denen eines vertrockneten, in rote Farbe getauchten Pinsels; die Hände hingen schwer und schlaff herab. In den Mundwinkeln hatte er geronnenes Blut. Auch der Knoten des Halstuchs war blutverklebt. Das Hemd scheuerte die Wunden, der rauhe Stoff des Rockes rieb das bloße Fleisch. Vorsichtig löste Jean Valjean die Kleidung von der Haut ab und legte seine Hand auf Marius’ Brust. Das Herz schlug noch. Jean Valjean zerriß sein Hemd, verband die Wunden so gut er konnte und stillte das Blut. Dann neigte er sich im Halbdunkel über den noch immer bewußtlosen Marius und betrachtete ihn mit unaussprechlichem Haß.
Während
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