Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
in den Tuilerien aufscheuchen! Du warst so gütig und hast dich so umbringen lassen? Gut, mir liegt nichts daran. Hörst du es?«
In diesem Augenblick schlug Marius langsam die Augen auf, und sein unsteter Blick richtete sich auf Herrn Gillenormand.
»Marius!« schrie der Greis, »mein kleiner Marius! Lieber Junge! Sieh mich doch an! Du lebst! Ich danke dir!«, und er brach ohnmächtig zusammen.
Javert aus der Bahn geworfen
Javert war langsam die Rue de l’Homme Armé hinuntergeschritten.
Er bog in eine Gegend stiller Straßen ein. Doch hielt er sich an eine bestimmte Richtung.
Auf kürzestem Wege eilte er zur Seine, erreichte den Quai des Ormes, überschritt den Grèveplatz und blieb unweit des Kommissariats am Châteletplatz, an der Ecke des Pont-Notre-Dame, stehen. Die Seine bildet hier, zwischen dem Pont-Notre-Dame und dem Pont-au-Change ein viereckiges Bassin mit einer Stromschnelle.
Javert legte seine beiden Hände auf die Brüstung, beugte das Kinn herab und dachte nach.
Er litt furchtbar. In seinem Gewissen empfand er eine doppeltePflicht, eine zwiespältige Pflicht. Als er Jean Valjean unerwartet am Ufer der Seine gefunden hatte, war in ihm zugleich der Instinkt des Wolfes, der seine Beute wittert, und der des Hundes, der seinen Herrn wiederfindet, wach geworden: Vor sich sah er zwei schnurgerade Wege; aber es waren ihrer zwei, und er hatte, solange er lebte, immer nur einen vor sich gesehen. Schlimmer noch, die beiden waren einander entgegengesetzt. Sie schlossen einander aus. Welchen mußte er gehen?
Er schuldete sein Leben einem Verbrecher, hatte diese Schuld angenommen und wiedererstattet. Seiner eigensten Natur zuwider hatte er sich mit einem Sträfling auf gleichen Fuß gestellt, ihm einen Dienst mit einem anderen bezahlt. Von einem Verbrecher hatte er sich sagen lassen: Geh! Und er hatte ihm darauf gesagt: Gut, du bist frei. Persönlichen Motiven hatte er seine Pflicht geopfert, ja, er fand in diesen Motiven sogar ein höheres Prinzip; man konnte Verrat an der menschlichen Gesellschaft üben und doch seinem Gewissen treu bleiben. Dieser Widersinn war Wirklichkeit, dies konnte geschehen!
Erstaunlich war, daß Jean Valjean ihm Gnade erwiesen hatte, noch viel erstaunlicher aber, daß er, Javert, Jean Valjean geschont hatte.
Und was sollte er jetzt tun? Jean Valjean der Gerechtigkeit ausliefern, wäre niederträchtig gewesen. Ihn freilassen war ein Verbrechen. Im ersten Fall sank er, der Beamte, unter den niedrigsten Bagnosträfling; im zweiten Fall gestand er, daß ihm ein Sträfling mehr galt als das Gesetz. So oder so, Javert war entehrt. Welche Entscheidung er auch treffen mochte, sein Sturz war unvermeidlich.
Auch mußte er sich Vorwürfe machen, weil er jenen Insurgenten nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht hatte; aber daran dachte er kaum. Die geringere Verfehlung schien aufgehoben durch die große. Überdies war jener Revolutionär sichtlich dem Tod verfallen, und mit dem Tode setzt auch die Verfolgung aus.
Nur Jean Valjean lastete schwer auf seiner Seele.
Mit Entsetzen gewahrte Javert, daß sich in seiner Brust ein unbekanntes Gefühl regte, die Bewunderung für einen Sträfling. Einen Galeerensträfling achten – war das möglich? Er schauderte davor zurück, konnte sich aber dieser Regung nicht erwehren.
Ein mildtätiger Übeltäter! Ein sanfter, hilfsbereiter, gütigerSträfling! Ein Sträfling, der Böses mit Gutem vergalt, Haß mit Verzeihung, der sich nicht rächte, sondern Mitleid fühlte, lieber selbst zugrunde ging, bevor er seinen Feind tötete, der jenen rettete, der ihn geschlagen – dieses Ungeheuer, Javert mußte es bekennen, existierte. Dieser Zustand war nicht zu ertragen.
Gewiß hatte er Widerstand geleistet, wohl zwanzigmal war es ihm in jenem Wagen gewesen, als ob er endlich nach Jean Valjean greifen müßte. Zwanzigmal hatte er sich auf ihn stürzen, ihn verschlingen und verhaften wollen. Und was war einfacher als das? Er brauchte nur dem erstbesten Gendarmen zuzurufen: Holla, hierher, das ist ein entsprungener Sträfling! Dieser Mann gehört euch! Er brauchte nur zu gehen, sich um das Weitere nicht mehr zu kümmern. Der Mann war für immer dem Gesetz verfallen, das Gesetz würde mit ihm verfahren, wie es wollte. Gab es etwas Gerechteres?
Alles das hatte Javert sich gesagt, hatte versucht, sich über seine Bedenken hinwegzusetzen – aber es war ihm so gegangen wie jetzt, er hatte es nicht gekonnt. Sooft er seine Hand krampfhaft ausstreckte nach Jean
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