Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Nase herumtanzen dürfen, hättest mit diesem Trottel von Großvater tun können, was du wolltest. Oh, du hast es gewußt, aber du hast gesagt: nein, er ist einer von den Royalisten, zu ihm gehe ich nicht! Dafür bist du auf die Barrikade gegangen, hast dich töten lassen – aus purer Niedertracht! Nur um dich zu rächen, weil ich dir meine Meinung gesagt hatte! Ist das nicht gemein? So, legt euch nur ins Bett und schlaft ruhig – dann weckt man euch auf und sagt: er ist tot, weiter nichts.«
Der Arzt begann nun auch für den Greis zu fürchten und trat zu Gillenormand. Aber der Alte sah ihn ruhig, mit großen, blutunterlaufenen Augen an und sagte:
»Ich danke Ihnen, Herr, ich bin ruhig, ich bin ein Mann, ich habe Ludwig XVI. sterben gesehen und verstehe mich darauf, das Unvermeidliche zu ertragen. Das Schlimmste ist, daß ich immer denken muß: eure verfluchten Zeitungen richten das alles an. Seit wir diese Tintenkleckser, Zungendrescher, Advokaten, Schwätzer, diese Debattierer, all das verlogene Zeug, Fortschritt, Aufklärung,Menschenrechte, Pressefreiheit und dergleichen haben, bringt man unsere Kinder so nach Hause! Ach, es ist fürchterlich! Marius vor mir tot! O dieser Bandit! Doktor, Sie wohnen hier in der Gegend, glaube ich? Oh, ich kenne Sie wohl, oft sehe ich Ihren Wagen vorbeifahren. Ich will Ihnen etwas sagen: Sie dürfen nicht glauben, daß ich wütend bin. Man zürnt einem Toten nicht. Es wäre ja blöde. Ich habe diesen Jungen erzogen. Ich war schon reichlich alt und er noch ganz klein. In den Tuilerien spielte er mit seinem kleinen Spaten, und ich habe immer, damit der Inspektor nicht schelten sollte, mit meinem Stock die Löcher zugescharrt, die er in die Erde grub. Eines Tages stellt er sich vor mich hin und schreit: Nieder mit Ludwig XVIII.! – und dann ist er gegangen. Es war nicht meine Schuld. Er war ganz rosig und blond. Seine Mutter ist tot. Haben Sie bemerkt, daß alle kleinen Kinder blond sind? Woher das nur kommt? Und dabei ist er der Sohn eines Loireräubers, aber die Kinder sind ja unschuldig an den Verbrechen der Väter. Ich erinnere mich noch, wie er ganz klein war. Damals konnte er nie das ›D‹ aussprechen. Einmal, vor der Statue des Ercole Farnese, gab es einen kleinen Auflauf – alle Leute blieben stehen und sahen das hübsche Kind an. Es war ein Kopf, wie man ihn nur auf Bildern sieht. Ich fuhr den Jungen manchmal grob an, drohte ihm sogar mit dem Stock, aber er wußte schon, daß ich es nicht ernst meinte. Wenn er nur morgens zu mir ins Zimmer kam, war es schon licht – wenn ich auch leicht lospolterte! Man ist ja ganz wehrlos gegen diese kleinen Jungen. Das packt einen, läßt einen gar nicht mehr los. Und jetzt haben sie ihn mir in den Tod getrieben, eure Lafayette, Benjamin Constant und Tirecuir de Corcelles. Das darf so geschehen!«
Er trat wieder zu dem reglosen Marius, betrachtete ihn und begann von neuem die Hände zu ringen. Fast mechanisch bewegten sich seine Lippen, er keuchte und stöhnte.
»Ach, du herzloser Schuft, du Septemberbandit!«
Nur mühsam konnte er sich fassen und wieder zusammenhängend sprechen. Aber seine Stimme war dumpf und erloschen, als ob sie aus einem Abgrund herausschalle.
»Nun, es ist ja gleichgültig, ich sterbe ja auch. Wenn man nur denkt, daß es in ganz Paris kein Mädel gab, das sich nicht ein Vergnügen daraus gemacht hätte, diesen Kerl zu beglücken! Und statt sich zu amüsieren, geht dieser Schuft hin und läßt sich totschießen wie ein Idiot! Statt in die Chaumière tanzen zu gehen, wie es denjungen Leuten ansteht! Dabei ist er kaum zwanzig Jahre alt. Da plagen sich die armen Weiber und bringen hübsche Kinder zur Welt! Nun, wir werden zwei Beerdigungen gleichzeitig haben. Kusch, krepier in deinem Winkel, alter Uhu! Gut, um so besser, das bringt mich wenigstens auch um. Ich bin sowieso schon zu alt! Hundert Jahre, hunderttausend Jahre bin ich alt! Hätte längst schon tot sein sollen. Das wird mir in die Grube helfen. Wenn man es so nimmt, ist es ein Glück! Wozu lassen Sie denn den armen Jungen Ammoniak riechen! Sie plagen sich umsonst, Sie Schwachkopf! Sehen Sie nicht, daß er tot ist? Ich muß es doch wissen, denn ich bin ja auch schon tot. Der tut keine halben Sachen! Ja, eine gemeine, schmutzige, niedrige Zeit ist das, so denke ich von euch, von euren Ideen, Systemen und euren Doktoren, von eurem Literatenklüngel, von euren abgerissenen Philosophen, von euren stupiden Revolutionen, die seit sechzig Jahren die Raben
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