Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
stieß er gar auf einen Wasserlauf, den er durchwaten mußte.
Erst nach vierzig Minuten erreichte er schweißtriefend, außer Atem, zerschunden und wütend die Lichtung Blaru.
Niemand war da.
Er eilte auf den Steinhaufen zu. Der war da. Niemand hatte ihn weggetragen.
Der Fremde war im Walde verschwunden. Wohin? In welche Richtung? Unmöglich, es zu erraten!
Am schlimmsten war, daß Boulatruelle hinter dem Steinhaufen, vor dem Baum mit der Zinkplatte, einen frisch aufgeworfenen Erdhügel fand, eine vergessene oder weggeworfene Schaufel und ein Loch.
Das Loch war leer.
»Dieb!« schrie Boulatruelle und schüttelte die Fäuste gegen den Horizont.
Nach dem Bürgerkrieg der Krieg im Haus
Marius schwebte lange Zeit zwischen Tod und Leben. Wochenlang schüttelte ihn das Wundfieber, und gewisse ernste Symptome deuteten auf eine Verletzung des Gehirns, die nicht nur durch die äußerlichen Wunden entstanden sein mochte.
Nächtelang wiederholte er mit der Geschwätzigkeit der Fiebernden den Namen Cosettes. Und täglich ein- oder zweimal meldete sich in dem Hause ein Herr mit weißen Haaren, der, wie der Pförtner meldete, sehr gut angezogen war, erkundigte sich nach dem Befinden des Verwundeten und hinterließ ein großes Paket Scharpie.
Endlich, nach vier Monaten, erklärte der Arzt, er könne jetzt für die Rettung des Patienten bürgen. Die Genesung machte sichtliche Fortschritte. Doch sollte Marius noch zwei Monate auf der Chaiselongue bleiben, um die vollständige Ausheilung des Schlüsselbeinbruchs nicht zu stören. In solchen Fällen gibt es immer eine letzte Wunde, die sich nicht schließen will. Übrigens bewahrten ihn diese lange Krankheit und Rekonvaleszenz vor Verfolgungen. Der Franzose ist nicht fähig, sechs Monate lang zu zürnen. Überdies sind, wie die Dinge nun einmal liegen, an allen Revolutionen so weite Kreise beteiligt, daß man nach ihrer Überwindung gern, so gut es geht, die Augen schließt. Entscheidend war schließlich die ungeheuerliche Verordnung des Präfekten Gisquet, der den Ärzten die Pflicht auferlegte, Verwundete zu denunzieren. Diese Bestimmung erbitterte die Öffentlichkeit, und sogar der König erhob Einspruch. Den Verwundeten kam diese öffentliche Stimmung zunutze. Wer nicht auf frischer Tat ertappt worden war, konnte sicher sein, von den Kriegsgerichten unbehelligt zu bleiben. Man ließ auch Marius in Ruhe.
Gillenormand hatte inzwischen alle Ängste und alle Freuden durchgemacht. Nur mit Mühe hatte man ihn hindern können, die Nächte bei dem Verwundeten zuzubringen. Er ließ seinen großen Lehnstuhl neben das Bett Marius’ tragen und verlangte, daß seine Tochter die beste Wäsche, die man im Hause hatte, zerriß, um daraus Kompressen und Verbände zu machen. Als Fräulein Gillenormand einwandte, Batist eigne sich weniger für Scharpie als grobes Leinen und neues Leinen weniger als gebrauchtes, wollte er davon nichts hören. Sooft Marius verbunden wurde, sah er zu, und wennder Arzt totes Fleisch wegschnitt, schrie er selbst vor Schmerz auf. Es war rührend zu sehen, wie dieser zitternde Greis dem Verwundeten die Arznei reichte. Er bestürmte den Arzt mit Fragen und bemerkte selber kaum, daß es immer die gleichen waren.
Was Marius betrifft, so ließ er sich in aller Ruhe verbinden und pflegen, ohne an etwas anderes als an Cosette zu denken. Seit das Fieber gewichen war, hatte er ihren Namen nicht mehr ausgesprochen. Er schwieg, aber er tat es nur, weil seine Seele bei ihr weilte.
Was aus Cosette geworden war, wußte er nicht. Der Vorfall in der Rue de la Chanvrerie lag wie eine Wolke über seinem Gedächtnis. Ungewisse Schatten tauchten auf und nieder, Eponine, Gavroche, Mabeuf, Thénardier – seine Freunde, mitten im Pulverdampf auf der Barrikade das seltsame Auftauchen des Herrn Fauchelevent; er begriff nicht, wie er mit seinem Leben davongekommen war, wie und von wem er gerettet worden, und niemand konnte es ihm sagen. Alles, was im Hause bekannt war, bestand in der Mitteilung, eine Droschke sei eines Nachts vorgefahren und habe ihn mitgebracht. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mischten sich in seinem Kopf zu einem dunklen Wirrwarr. Doch gab es einen sicheren Punkt, eine Entschlossenheit, einen Willen: Cosette, die er wiederfinden wollte.
Wir dürfen nicht verschweigen, daß Marius sich durch die Zärtlichkeiten seines Großvaters nur wenig rühren ließ. Zunächst wußte er ja gar nicht, was für ihn geschah; seinem fiebernden Gehirn erschien die Güte des
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