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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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Valjeans Kragen, war es ihm gewesen, als ob ein schweres Gewicht sie herabziehe, und eine unbekannte Stimme hatte ihm zugerufen: Gut, liefere deinen Retter aus, und dann laß dir das Wasser bringen, deine Tigerklauen in Unschuld zu waschen wie Pontius Pilatus.
    Seine schlimmste Qual war, daß nun alle Gewißheit verschwunden war. Er kam sich vollkommen entwurzelt vor. Das Gesetzbuch war in seiner Hand zu einer blinden Waffe geworden.
    Er mußte zugeben, daß Güte kein leerer Wahn ist. Dieser Sträfling war gütig gewesen. Ja, so unerhört es ihm schien, er selbst war einer Regung von Güte gefolgt. Er war entartet.
    Er war also ein Feigling. Ihm graute vor seinem eigenen Wesen.
    Javert frönte nicht dem Ideal der Menschlichkeit – er wollte nur untadelig sein. Und er war es nicht mehr.
    Wie war das gekommen? Wie war das möglich geworden? Er selbst hätte es nicht angeben können. Er stützte seinen Kopf in beide Hände, aber sosehr er auch sein Gehirn zerquälte, er fand keine Erklärung.
    Gewiß war es doch immer seine Absicht gewesen, Jean Valjean dem Gesetz auszuliefern, dem er verfallen war, und als dessen Sklave er, Javert, sich empfand. Und solange er ihn in Händen hielt, nie war ihm der Gedanke gekommen, ihn laufen zu lassen. Gegenseinen Willen hatte seine Hand sich geöffnet und den andern freigegeben.
    Es war unerträglich.
    Er befand sich in einer grausamen Lage. Nur zwei Auswege boten sich ihm. Der eine: kurz entschlossen zu Jean Valjean zu gehen, den Mann wieder dem Bagno zuzuführen. Der zweite …
    Tiefste Finsternis herrschte. Grabesstille, die immer der Mitternachtsstunde folgt, lag über die Stadt gebreitet. Wolken verdeckten den Sternenhimmel. Die Häuser der Altstadt lagen in vollständiger Dunkelheit, nirgends brannte Licht. Notre-Dame und die Türme des Justizpalastes waren nur undeutlich als Silhouetten zu erkennen. Die Regengüsse der letzten Tage hatten den Wasserspiegel der Seine steigen lassen.
    Javert beugte sich vor und sah hinab. Alles war schwarz, nichts zu unterscheiden. Man hörte das Rauschen des Flusses, konnte aber das Wasser nicht sehen. Augenblicke lang glitt in schwindelnder Tiefe ein Lichtschimmer sich schlängelnd über das Wasser hin, das ja sogar in tiefster Finsternis von irgendwo Licht empfängt. Dann verlosch er wieder. Was Javert da vor sich sah, war nicht der Fluß, es war ein unendlicher Abgrund.
    Wenn man auch nichts sah, so fühlte man doch die feindliche Kälte des Wassers und den faden Geruch der nassen Steine. Ein atemraubender Hauch stieg aus der Tiefe auf. Das Hochwasser, das man eher ahnte, als sah, das dumpfe Brausen der Wasser, das Gefühl, man könne hier in eine düstere Leere hinabstürzen, machte einen schauerlichen Eindruck.
    Javert blieb hier einige Minuten ruhig stehen, blickte in die Dunkelheit hinab. Starr betrachtete er das Unsichtbare.
    Plötzlich nahm er den Hut ab und legte ihn auf die Brüstung des Quais. Im nächsten Augenblick stand eine hohe, schwarze Gestalt auf der Brüstung, bückte sich vor, richtete sich wieder auf und fiel senkrecht in die Finsternis hinab. Dann hörte man ein dumpfes Aufklatschen. Nur die Finsternis sah die Zuckungen dessen, der im Wasser untertauchte.

Drittes Buch
Enkel und Großvater
Der Leser hört wieder von dem Baum mit der Zinkplatte
    Einige Zeit nach den oben erzählten Ereignissen erlebte Herr Boulatruelle etwas sehr Merkwürdiges.
    Wie der Leser sich vielleicht erinnert, war Boulatruelle ein Mann, der sich nicht darauf versteifte, ein einziges Gewerbe auszuüben. Er klopfte hauptamtlich Steine, nahm aber auch die Gelegenheit wahr, einen vereinzelten Wanderer etwas zu erleichtern. Aus dieser Mischung von Straßenarbeiterschaft und Diebsgewerbe war ein Ideal entstanden: er glaubte an die Schätze, die in dem Walde von Montfermeil vergraben sein sollten. Noch immer klammerte er sich an die Hoffnung, eines Tages am Fuße eines Baumes Geld zu finden. Zwischendurch holte er sich aus den Taschen Vorüberkommender einen kleinen Vorschuß.
    Zur Zeit war er sehr vorsichtig. Eben war er mit knapper Not aus einer peinlichen Situation entronnen. Wie der Leser sich erinnert, hatte man ihn mit den anderen Banditen in Jondrettes Stube aufgegriffen. Aber auch Laster können zum Guten ausschlagen – daß er sinnlos betrunken gewesen, hatte ihn gerettet. Niemand wußte, ob er als Dieb oder als zu Bestehlender in Jondrettes Wohnung gekommen war. Seine Trunkenheit war gerichtsnotorisch, also setzte man ihn mangels jeglichen

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