Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
raschen Blick, daß die Nummer über dem Haustor stimmte, hob dann den schweren Eisenklöppel, der nach alter Mode mit zwei mythologischen Gestalten, einem Bock und einem Satyr, verziert waren, und pochte. Als die Tür sachte geöffnet wurde, stieß Javert sie vollkommen auf. Der gähnende, verschlafene Pförtner stand mit einer Kerze in der Hand auf der Schwelle.
Schon hatten Jean Valjean und der Kutscher Marius aus der Droschke gehoben. Im Tragen fühlte Jean Valjean nach der Brust des jungen Mannes und vergewisserte sich, daß das Herz noch schlug. Ihm schien sogar, daß es jetzt lebhafter schlug, vielleicht infolge der Fahrt in dem rüttelnden Wagen.
Javert redete den Portier an, wie die Behörde den Bediensteten eines Aufwieglers anspricht.
»Einer im Haus, der Gillenormand heißt?«
»Ja. Was wollen Sie von ihm?«
»Wir bringen ihm seinen Sohn.«
»Seinen Sohn?« fragte der Portier verblüfft.
»Ja. Er ist tot. Er war auf der Barrikade. Hier ist er.«
»Auf der Barrikade!« schrie der Pförtner auf.
»Da hat er sich totschießen lassen. Wecken Sie den Vater.«
Der Pförtner rührte sich noch immer nicht.
»Los, gehen Sie doch!« schrie jetzt Javert, »morgen gibt es hier ein Leichenbegängnis.«
In Javerts Denkungsweise hatten sich die Dinge, die auf öffentlichen Plätzen passieren können, in gewisse Kategorien eingeordnet, die es ihm erlaubten, alles in seinem Gedächtnis übersichtlich anzuordnen. Jede Möglichkeit hatte gewissermaßen ihr Schubfach,aus dem sie, nur der Menge nach abänderlich, entnommen werden konnte. Auf der Straße konnten sich seiner Ansicht nach nur Krawall, Rebellion, Karneval und Leichenbegängnis ereignen.
Der Pförtner begnügte sich, Baske zu wecken. Baske weckte Nicolette, Nicolette Tante Gillenormand. Den Großvater ließ man schlafen, denn man meinte, er werde die Sache immer noch rechtzeitig erfahren.
Marius wurde in aller Stille in den ersten Stock getragen und auf ein altes Kanapee gelegt, das im Vorzimmer des Herrn Gillenormand stand. Während Baske um einen Arzt und Nicolette nach dem Wäscheschrank lief, fühlte Jean Valjean, daß Javert seine Schulter berührte. Er begriff und folgte dem Polizisten.
Der Pförtner sah sie gehen, wie er sie kommen gesehen hatte, noch immer ganz benommen. Sie stiegen wieder in die Droschke.
»Inspektor Javert«, sagte Jean Valjean jetzt, »gewähren Sie mir noch eine Bitte.«
»Was?« fragte Javert schroff.
»Lassen Sie mich einen Augenblick nach Hause gehen, dann komme ich mit Ihnen.«
Javert blieb einige Augenblicke in Gedanken versunken, das Kinn in den Kragen seines Rocks gebohrt; dann rief er:
»Kutscher, Rue de l’Homme Armé Nr. 7!«
Erschütterung des Absoluten
Während der ganzen Fahrt sprachen die beiden nicht.
Als die Droschke an der Ecke der Rue de l’Homme Armé hielt, weil die Einfahrt für einen Wagen zu schmal war, stiegen Jean Valjean und Javert aus. Der Polizist entließ die Droschke. Jean Valjean dachte, daß er ihn wohl zu Fuß nach dem Kommissariat der Blancs-Manteaux führen wolle.
Sie gingen in die Straße hinein, die wie gewöhnlich vollkommen menschenleer war. Vor Nr. 7 blieben sie stehen. Jean Valjean klopfte. Es wurde geöffnet.
»Gut«, sagte Javert, »gehen Sie hinein.«
Und mit einer seltsamen Betonung, als ob er nur mühsam etwas Derartiges über die Lippen brächte, fügte er hinzu:
»Ich erwarte Sie hier.«
Jean Valjean streifte ihn mit einem Blick. Dieses Betragen entsprach so wenig Javerts Gewohnheit! Doch durfte man sich nicht so sehr darüber wundern, konnte darin eher ein hochmütiges Vertrauen erblicken, etwa das Vertrauen der Katze, die eine Maus für einen Augenblick aus dem Bereich ihrer Tatzen entläßt. Jean Valjean trat ein, rief dem Pförtner zu, daß er es sei, und stieg die Treppe hinauf.
Als er den Absatz des ersten Stockwerks erreichte, blieb er stehen. Jeder Schmerzensweg hat seine Station.
Sei es, um frische Luft zu schöpfen, sei es aus unbewußter Regung, trat Jean Valjean an das Fenster und beugte sich hinaus. Im nächsten Augenblick war er maßlos erstaunt.
Da unten war niemand.
Javert war fortgegangen.
Der Großvater
Baske und der Pförtner hatten Marius, der sich immer noch nicht regte, in den Salon getragen. Inzwischen war der Arzt gekommen und Tante Gillenormand aufgestanden. Sie lief erschrocken auf und ab, rang die Hände und war außerstande, etwas anderes zu sagen als: »Großer Gott, ist so etwas denn möglich?!« Oder sie jammerte: »Alles
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