Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Greises seltsam und bedenklich. Er blieb kalt. Umsonst vergeudete der Greis sein armes Lächeln. Marius sagte sich, alles werde gut sein, solange er nicht spreche und alles mit sich geschehen lasse; brächte er aber die Rede auf Cosette, so würde die Miene des Alten sich beträchtlich ändern, der alte Tyrann sich demaskieren. Es würde einen harten Kampf setzen. Wieder würde der Familienstreit aufflammen, er, Marius, werde alle diese Sarkasmen und höhnischen Einwände zu hören bekommen, das Gerede von Fauchelevent, Coupelevent, Geld, Armut, Elend, Stein um den Hals und Zukunft. Er durfte mit dem heftigsten Widerstand rechnen. Und Marius machte sich darauf gefaßt.
Im Ausmaße, in dem er gesundete, empfand er wieder Bitterkeit gegen seinen Großvater. Der Greis erduldete sie mit Sanftmut.
Ohne sich darüber zu äußern, hatte Gillenormand längst bemerkt, daß Marius ihn niemals Vater angeredet hatte. Er sagte janicht gerade Herr zu ihm, aber er fand immer einen Ausweg, beide Anreden zu vermeiden.
Eine Krise stand bevor.
Schon begann Marius, wie das in solchen Fällen üblich ist, kleine Vorpostengefechte zu inszenieren. Er wollte das Terrain sondieren. Eines Morgens geschah es, daß Herr Gillenormand, der eben die Zeitung gelesen hatte, verächtlich über den Konvent sprach und Danton, Saint-Just und Robespierre mit einem royalistischen Schimpfwort apostrophierte.
»Die Leute von 1793 waren Riesen«, sagte Marius streng.
Der Greis schwieg und war den ganzen Tag über nicht wieder zum Reden zu bringen.
Marius erinnerte sich der Hartnäckigkeit seines Großvaters und glaubte in diesem Schweigen einen verhaltenen, um so konzentrierteren Zorn zu erkennen. Er ahnte, daß der Kampf fürchterlich sein werde, und sammelte Waffen.
Er beschloß, falls der Alte ihn zurückweise, sein Schlüsselbein wieder zu zerschmettern, die Verbände von seinen Wunden zu reißen und die Nahrung zu verweigern. Seine Wunden waren seine Waffen.
Und mit der tückischen Geduld der Kranken erwartete er den günstigen Augenblick für den Kampf.
Marius greift an
Eines Tages stand Gillenormand, während seine Tochter Karaffen und Tassen auf der Marmorplatte der Kommode ordnete, neben Marius und sagte freundlich:
»Siehst du, lieber kleiner Marius, ich würde an deiner Stelle lieber Fleisch statt Fisch essen. Für den Anfang der Rekonvaleszenz mag ja eine gebratene Seezunge recht geeignet sein, aber wenn ein Mann wieder zu Kräften kommen will, soll er lieber Kotelett essen.«
Marius, dessen Kräfte schon fast ganz zurückgekehrt waren, richtete sich auf, stützte seine beiden geballten Fäuste auf das Bett, sah seinen Großvater todernst an und sagte:
»Da fällt mir ein, daß ich dir doch etwas sagen muß.«
»Was?«
»Ich will heiraten.«
»Das hatte ich erwartet«, sagte der Alte und lachte.
»Wieso erwartet?«
»Na, eben erwartet. Du sollst sie haben, deine Kleine.«
Marius war vollkommen verblüfft und begann zu zittern.
»Jaja«, fuhr Gillenormand fort, »du sollst deine hübsche Kleine haben. Sie kommt täglich hierher in Gestalt eines alten Herrn, der sich nach deinem Befinden erkundigt. Seit du verwundet bist, beschäftigt sie sich nur mehr mit Weinen und Scharpiezupfen. Du siehst, ich bin informiert. Sie wohnt Rue de l’Homme Armé Nr. 7. Also heiraten willst du? Gut, von mir aus. Aber eins will ich dir sagen, hier bist du ordentlich hereingesprungen. Du hast dir gedacht: jetzt werde ich dem Alten, dieser Mumie aus der Regentschaftszeit, diesem alten Steiger, meine Meinung sagen. Er hat sein Lotterleben hinter sich, seine Liebschaften, seine Grisetten und Cosetten; der hat das Froufrou ausprobiert, hat den Frühling warm sein lassen, solange es ging; jetzt soll er sich daran erinnern! Kampf bis aufs Messer! Nimm den Stier bei den Hörnern. So geht es unsereinem, ich biete dir ein Kotelett an, und du verlangst eine Frau. Eine schöne Verwechslung. Also du willst zanken! Du weißt wohl nicht, daß ich ein alter Feigling bin! Jetzt ärgerst du dich. Den Alten dümmer zu finden als dich selbst, darauf warst du nicht gefaßt. Deine ganze Rede fällt ins Wasser, Herr Advokat – es ist jammerschade. Jetzt bleibst du allein auf deiner Wut sitzen. Ich tue, was du willst – ärgere dich! Ich habe mich erkundigt, denn ich bin auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie ist ein nettes, anständiges Mädchen. Eine Menge Scharpie hat sie gezupft. Sie ist nett – und ganz in dich vernarrt. Ich hatte die Idee, sie eines Morgens
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