Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
Vom Netzwerk:
geht wirklich nicht. Das ist nicht recht.«
    »Du irrst, Cosette«, erwiderte Marius, »wir sprachen von Geschäften. Es handelt sich um die Frage, wie wir die sechshunderttausend Franken anlegen sollen.«
    »Das ist alles Unsinn. Ich bin da. Werde ich hier gebraucht?«
    Jetzt öffnete sie kurz entschlossen die Tür und trat in den Salon. Sie trug ein langes, weißes Peignoir mit weiten Ärmeln, die fast bis zu den Füßen herabfielen. Auf alten gotischen Bildern sieht man diese entzückenden Gewänder, von Engeln getragen.
    Sie betrachtete sich von Kopf bis zu Fuß in einem großen Spiegel, dann rief sie fröhlich:
    »So, nun bleibe ich bei euch. In einer halben Stunde wird gefrühstückt, da könnt ihr euch nach Lust unterhalten. Ich werde euch ganz vernünftig zuhören.«
    Marius ergriff ihren Arm und sagte zärtlich:
    »Wir sprechen von Geschäften. Nur Ziffern – es wird dich langweilen.«
    »Du hast heute ein hübsches Halstuch umgenommen, Marius. Sie sind recht kokett, edler Herr. Nein, ich werde mich nicht langweilen.«
    »Doch, gewiß!«
    »Nein, denn es handelt sich ja um euch. Wenn ich es auch nicht verstehe, ich werde doch zuhören. Wenn man die Stimmen hört, die man liebt, braucht man ja nicht zu wissen, was gesprochen wird. Darum bleibe ich bei euch.«
    »Es ist unmöglich, liebe Cosette.«
    »Unmöglich?«
    »Ja.«
    »Schön«, sagte Cosette, »und ich wollte euch so viele Neuigkeiten erzählen. Ich hätte euch gesagt, daß Großvater noch schläft, daß die Tante zur Messe gegangen ist, daß der Kamin in Vaters Zimmer raucht, daß Nicolette den Schornsteinfeger geholt hat, daß Toussaint und Nicolette sich schon gezankt haben und daß Nicolette sich über Toussaint lustig macht, weil sie stottert. So, jetzt erzähle ich euch gar nichts. Ach, unmöglich? Nun, jetzt werde ich einmal sagen: unmöglich! Ich bitte, mein kleiner Marius, laß mich doch bei euch!«
    »Ich schwöre dir, wir müssen allein sein.«
    »So, jetzt reden Sie mit der Männerstimme, Herr. Gut, ich kann ja gehen. Und Sie, Vater, haben mir auch nicht geholfen. Ihr seid beide Tyrannen. Ich werde es dem Großvater sagen. Wenn ihr glaubt, ich komme wieder und erzähle euch Geschichten, so irrt ihr euch. Ich bin stolz.«
    Und sie ging.
    Die Tür fiel ins Schloß, und es war, als ob es in dem Zimmer wieder dunkel würde.
    Marius überzeugte sich, daß die Tür wirklich geschlossen war.
    »Arme Cosette«, murmelte er, »wenn sie erfahren wird …«
    Jetzt begann Jean Valjean an allen Gliedern zu zittern. Ein entsetzter Blick fiel auf Marius.
    »Oh, Sie wollen es Cosette sagen! Ach, daran hatte ich nicht gedacht. Man ist stark genug, das eine zu ertragen, aber dann versagt die Kraft. Herr, ich bitte und beschwöre Sie, geben Sie mir Ihr heiligstes Ehrenwort, daß Sie nichts sagen werden. Genügt es denn nicht, daß Sie es wissen? Ich konnte es von selbst sagen, ohne gezwungen zu werden, der ganzen Welt hätte ich es sagen können, nur ihr nicht. Wie soll man ihr begreiflich machen, was ein Galeerensträfling ist? Großer Gott!«
    Er sank in den Stuhl und verbarg sein Gesicht in den Händen. Man hörte nichts, aber an dem Zucken seiner Schultern konnte man erkennen, daß er weinte. Stille Tränen – furchtbare Tränen.
    »Seien Sie ruhig«, sagte Marius, »ich werde Ihr Geheimnis für mich behalten.«
    Er war vielleicht nicht so mitleidvoll, wie er hätte sein sollen; aber seit allzu kurzer Zeit mußte er sich mit einer schrecklichen und unerwarteten Wirklichkeit auseinandersetzen, mußte begreifen, daß er nicht Fauchelevent, sondern einen Galeerensträfling vor sich hatte.
    »Ich muß Ihnen auch einige Worte wegen des Geldes sagen, das Ihnen zur Aufbewahrung gegeben wurde und das Sie so treu verwahrt haben. Das ist ein Beweis von hoher Ehrlichkeit. Sie müssen belohnt werden. Bestimmen Sie selbst den Betrag – scheuen Sie sich nicht, ihn hoch zu bemessen.«
    »Ich danke Ihnen, mein Herr«, antwortete Jean Valjean sanft.
    Einen Augenblick lang blieb er in Nachdenken versunken, dann meinte er:
    »Jetzt ist alles so ziemlich erledigt. So hätte ich nur noch …«
    »Was?«
    Jean Valjean zögerte, dann stammelte er mit erstickter Stimme:
    »Glauben Sie jetzt, da Sie alles wissen und allein zu bestimmen haben, daß ich Cosette nicht wiedersehen soll?«
    »Ich denke, es wäre wohl das beste«, antwortete Marius kalt.
    »Ich werde sie nicht mehr sehen«, murmelte Jean Valjean. Er ging zur Tür, legte die Hand auf die Klinke, schon ging die Tür

Weitere Kostenlose Bücher