Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
und sagte:
»Sind Sie etwa böse, weil ich glücklich bin?«
Die Naivität dringt oft, ohne es selbst zu wissen, tief in das Wesen der Dinge ein. Diese Frage schien Cosette einfach, Jean Valjean aber furchtbar. Cosette zerfleischte sein Herz.
Er erblaßte und schwieg eine Zeitlang, dann murmelte er, als ob er mit sich selbst spräche:
»Ihr Glück war das Ziel meines Lebens. Jetzt kann Gott mich abberufen, Cosette, du bist glücklich; meine Zeit ist um.«
»Jetzt haben Sie wenigstens du gesagt!« rief Cosette.
Und sie fiel ihm um den Hals.
Abwärts
Am nächsten Tage kam Jean Valjean zur selben Stunde. Cosette fragte jetzt nicht mehr, wunderte sich kaum noch; auch lud sie ihn nicht mehr ein, in den Salon zu treten. Sie vermied es, ihn Vater oder Herr Jean anzureden. Auch wehrte sie sich nicht dagegen, daß er sie Baronin ansprach. Doch war sie nicht mehr so froh wie früher. Wenn sie jetzt fähig gewesen wäre, traurig zu sein, gewiß wäre sie traurig gewesen.
Offenbar hatte sie mit Marius eine jener Auseinandersetzungen gehabt, bei welchen der geliebte Mann sagt, was er will, und nichts erklärt. Die Neugierde der Verliebten geht nicht über ihre Liebe hinaus.
Das Zimmer im Erdgeschoß war ein wenig komfortabler gemachtworden. Baske hatte die Flaschen fortgeschafft, Nicolette die Spinnweben entfernt.
Und an allen weiteren Tagen kam Jean Valjean zur selben Stunde. Täglich kam er, denn er wagte nicht, Marius’ Erlaubnis anders als wörtlich zu nehmen. Der junge Mann richtete es so ein, daß er nie zu Hause war, wenn Jean Valjean kam. Allmählich gewöhnte sich das Haus an Herrn Fauchelevents neue Schrulle. Toussaint erklärte sogar:
»Er ist immer so gewesen.«
Und der Großvater sagte: »Ein Original.« Damit war alles gesagt.
So verstrichen mehrere Wochen. Ein neues Leben bemächtigte sich allmählich Cosettes. Beziehungen, die aus der Heirat entstanden waren, Besucher, Sorgen des Haushalts, Vergnügungen, alle diese ernsten Dinge. Cosettes Luxus war nicht teuer. Er bestand nur im Zusammensein mit Marius. Mit ihm auszugehen, wenn er ausging, zu Hause zu bleiben, wenn er blieb, das war ihre größte Sorge. Immer wieder genoß sie die neue Freude, Arm in Arm mit ihm ausgehen zu dürfen am hellichten Tage, sich mit ihm ohne Begleiter in der Öffentlichkeit zu zeigen. Auch gab es allerlei Widerwärtigkeiten. Toussaint konnte sich mit Nicolette nicht vertragen und ging. Marius hatte viel zu tun, das Gericht nahm ihn oft in Anspruch.
Die Unterdrückung des vertraulichen »Du«, die Anrede als Baronin – alles das bewirkte, daß »Herr Jean« für Cosette ein anderer wurde. Er hatte sich ja bemüht, sie von sich zu entfernen, nun gelang es ihm. Sie wurde wieder heiter, war aber weniger zärtlich. Doch liebte sie ihn immer noch, das fühlte er wohl. Einmal sagte sie zu ihm: »Sie waren mein Vater, jetzt sind Sie es nicht mehr, dann waren Sie mein Onkel, jetzt sind Sie auch das nicht mehr. Erst Fauchelevent, jetzt Jean. Wer sind Sie eigentlich? Alles das ist mir recht unlieb. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie so gut sind, würde ich mich vor Ihnen fürchten.«
Aber er wohnte noch immer in der Rue de l’Homme Armé, wollte das Stadtviertel nicht verlassen, in dem auch Cosette lebte.
Seit einiger Zeit beobachtete Jean Valjean, daß das junge Paar recht zurückgezogen lebte. Die Sparsamkeit Marius’ hatte für Jean Valjean eine eigentümliche Bedeutung.
»Warum halten Sie sich nicht einen eigenen Wagen?« fragte ereinmal Cosette. »Ein hübsches Coupé kostet nicht mehr als fünfhundert Franken monatlich. Sie sind reich.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Cosette.
»Und Toussaint ist weggegangen, ohne daß Sie Ersatz gesucht haben, warum?«
»Nicolette genügt mir.«
»Aber Sie brauchen doch eine Zofe.«
»Ich habe Marius.«
»Sie sollten ein eigenes Haus führen, Bedienstete haben, einen Wagen und eine Loge in der Oper. Es gibt nichts, was für Sie zu schön ist. Warum wollen Sie nicht daraus Nutzen ziehen, daß Sie reich sind? Der Reichtum ist gut, wenn er sich mit dem Glück verbindet.«
Cosette antwortete nicht.
Jean Valjeans Besuche wurden nicht kürzer. Im Gegenteil, wenn das Herz ausgleitet, gerät es auf eine schiefe Ebene. Oft stimmte er, wenn er seinen Besuch in die Länge ziehen wollte, ein Loblied auf Marius an, fand ihn schön, edel, tapfer, geistvoll, beredt, gütig. Cosette zu sehen, in ihrer Gegenwart alles zu vergessen, war sein Glück. Nur so konnte er seine Wunde schließen.
Es
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