Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
er hatte nicht geschlafen.
»Ach, Sie sind es, Vater!« rief er, als er Valjean erkannte. »Dieser Schafskopf, Baske, tat geheimnisvoll. Aber Sie kommen zu früh. Es ist erst halb eins, Cosette schläft noch.«
Daß Marius zu Fauchelevent Vater gesagt hatte, bewies, wie glücklich er war. Bis jetzt hatte zwischen den beiden immer Kälte und Scheu gestanden, das Eis zwischen ihnen war nicht zu brechen noch zu schmelzen gewesen. In seinem Glückszustand hatte Marius alles vergessen, Fauchelevent war für ihn, was er für Cosette war, der Vater.
In einem Paroxysmus der Freude sprach er weiter:
»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen! Sie haben uns gestern gefehlt. Wie geht es Ihrer Hand? Besser doch?«
Zufrieden mit der bestätigenden Antwort, begann er weiterzuplaudern:
»Wir haben viel von Ihnen gesprochen, wir beide. Cosette liebt sie so sehr. Sie dürfen nie vergessen, daß Ihr Heim hier ist. Von der Rue de l’Homme Armé wollen wir nichts mehr wissen. Um keinen Preis der Welt! Wie können Sie nur in einer Straße wohnen, die mürrisch, verärgert und kalt ist und in die nicht einmal ein Wagen einfahren kann? Kommen Sie nur hierher, gleich heute! Wir sind fest entschlossen, ein glückliches Leben miteinander zu führen. Mein Großvater hat Gefallen an Ihnen gefunden. Spielen Sie Whist? Wenn Sie Whist spielen, werden Sie ihm ganz unentbehrlich sein. Wenn ich bei Gericht zu tun habe, werden Sie Cosette spazierenführen, wie damals im Luxembourg. Erinnern Sie sich noch? Sie frühstücken doch mit uns?«
»Mein Herr«, sagte Jean Valjean, »ich muß Ihnen etwas sagen. Ich bin ein Galeerensträfling.«
Es gibt Töne, die so hoch sind, daß unser Ohr sie nicht mehr erfassen kann. Und ähnlich geht es mit gewissen Gedanken – sie berühren zunächst das Gehirn dessen, dem sie mitgeteilt werden, nicht. Die Worte »ich bin ein Galeerensträfling« erreichten wohl das Ohr Marius’, aber er verstand nicht. Er begriff, daß man ihm da etwas gesagt habe, aber wußte nicht, was es war.
Jetzt erst merkte er, daß der Mann, der ihm gegenüberstand, in furchtbarer Verfassung war. Sein eigenes Glück hatte Marius gehindert, die Blässe des andern zu bemerken.
Jean Valjean nahm das schwarze Tuch ab, in das sein Arm gehüllt war, wickelte die Hand aus dem Leinen und zeigte den entblößten Daumen Marius.
»Ich habe nichts an der Hand«, sagte er.
Marius sah den Daumen an.
»Ich habe auch nichts daran gehabt«, fuhr Jean Valjean fort. »Aber ich mußte bei Ihrer Hochzeit fernbleiben. So gut ich es konnte, habe ich es auch getan. Ich habe diese Verletzung vorgeschützt, um nicht eine Fälschung zu begehen, denn sonst könnte Ihr Heiratskontrakt ungültig erklärt werden.«
Marius stammelte:
»Was soll das bedeuten?«
»Das soll bedeuten, daß ich auf den Galeeren war.«
»Aber mir ist, als ob ich verrückt werden sollte!«
»Herr Pontmercy, ich war neunzehn Jahre auf den Galeeren. Wegen Diebstahls. Dann wurde ich zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt. Wieder wegen Diebstahls. Als Rückfälliger. Augenblicklich bin ich ein Bannbrüchiger.«
Marius mochte noch so sehr vor der Wirklichkeit zurückschrecken, schließlich mußte er sich ergeben. Er begann zu begreifen, und wie es in solchen Situationen zu geschehen pflegt, er begriff zuviel. Ein schreckliches Licht ging ihm auf, er glaubte jetzt, daß auch ihm Furchtbares bevorstehe.
»Sagen Sie alles!« rief er. »Sie sind Cosettes Vater!«
Und mit einer Bewegung höchsten Abscheus trat er einige Schritte zurück.
Jean Valjean richtete sich so majestätisch auf, daß er über sein eigenes Maß hinauszuwachsen schien.
»Sie müssen mir wohl glauben, mein Herr; obwohl unser Eid vor dem Gericht nicht gilt …«
Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er mit höchster Festigkeit fort, indem er jede Silbe hervorhob:
»Sie glauben mir. Ich, der Vater Cosettes? Nein, vor Gott nicht. Ich bin ein Bauer aus Faverolles. Als Baumscherer verdiente ich mein Brot. Ich heiße nicht Fauchelevent, sondern Jean Valjean. Mit Cosette bin ich nicht verwandt. Beruhigen Sie sich. Ich hin einer, der vorübergeht. Vor zehn Jahren wußte ich noch gar nicht, daß es Cosette gab. Ich liebe sie, das ist wahr. Wenn man ein Kind aufwachsen gesehen hat, liebt man es, zumal, wenn man selbst schon alt ist. Ein Greis ist für alle kleinen Kinder ein wenig Großvater. Sie können, glaube ich, voraussetzen, daß ich etwas wie ein Herz besitze. Sie war eine Waise. Weder Vater noch Mutter. Sie
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