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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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mögen Sie wissen, daß ich Ihnen jetzt gleich eine Szene machen werde. Fangen wir von vorne an. Küssen Sie mich, Papa.«
    Sie bot ihm die Wange. Aber Jean Valjean rührte sich nicht.
    »Sie rühren sich nicht. Ich stelle das fest. Das ist die Haltung des Schuldbewußtseins. Immerhin, ich verzeihe Ihnen. Jesus Christus hat gesagt: Haltet die andere Wange hin. Hier ist sie.«
    Wieder rührte sich Jean Valjean nicht.
    »Nun, jetzt wird die Sache ernst! Was habe ich Ihnen denn getan? Ich bin wirklich beleidigt. Sie sollten mich lieber versöhnen. Sie speisen heute mit uns.«
    »Ich habe schon gegessen.«
    »Das ist nicht wahr. Ich werde Herrn Gillenormand sagen, daß er Sie ausschelten soll. Die Großväter sind wie geschaffen dazu, den Vätern die Leviten zu lesen. Gut, jetzt kommen Sie mit mir in den Salon, sofort.«
    »Unmöglich.«
    Cosette verlor ein wenig die Fassung. Jetzt gab sie es auf, Befehle zu erteilen, und begann zu fragen.
    »Aber warum denn? Sie suchen das häßlichste Zimmer des Hauses aus … denn es ist scheußlich hier …«
    »Du weißt … Sie wissen, Baronin, daß ich meine Eigenheiten habe. Es sind Schrullen …«
    Cosette schlug die Hände zusammen.
    »Baronin! Sie wissen … Das sind ja lauter Neuigkeiten. Was bedeutet denn das?«
    Jean Valjean suchte seine Zuflucht bei einem schmerzlichen Lächeln.
    »Nun, Sie wollten ja Frau Baronin sein, jetzt sind Sie es.«
    »Aber doch nicht für Sie, Vater!«
    »Nennen Sie mich nicht mehr Vater. Nennen Sie mich Herr Jean, oder Jean, wenn Sie wollen.«
    »Nicht mehr Vater? Bin ich nicht mehr Cosette? Herr Jean? Was ist denn das? Die reinste Revolution! Was ist denn geschehen? SehenSie mir doch in die Augen! Und Sie wollen nicht bei uns bleiben? Was soll denn das?«
    »Nichts.«
    »Also?«
    »Alles ist wie immer.«
    »Aber warum wechseln Sie dann den Namen?«
    »Sie haben ihn ja auch geändert, Sie sind jetzt Frau Baronin Pontmercy, ich bin Herr Jean.«
    »Ich verstehe kein Wort davon. Das ist alles barer Unsinn. Ich werde meinen Mann bitten, daß er erlaubt, Sie Herr Jean zu nennen. Ich hoffe, er wird nicht darauf eingehen. Sie bereiten mir großen Kummer. Schrullen kann man ja haben, aber darum muß man Cosette nicht Kummer machen. Sie haben kein Recht, böse zu sein, denn Sie sind ja gut.«
    Er antwortete nicht.
    Lebhaft ergriff sie seine Hände, hob sie mit einer unwiderstehlichen Gebärde zu ihrem Gesicht und preßte sie zwischen ihren Hals und ihr Kinn. Diese Geste war von unbeschreiblicher Zärtlichkeit.
    »Seien Sie wieder gut«, sagte sie. »Ich meine damit, Sie sollen freundlich sein und zu uns kommen. Es gibt hier Vögel, wie in der Rue Plumet. Sie sollen hier wohnen und dieses Loch in der Rue de l’Homme Armé verlassen, uns nicht Rätsel aufgeben, sich benehmen wie alle Leute, kurz, wieder mein Vater sein.«
    Er löste seine Hände aus den ihren.
    »Sie brauchen keinen Vater mehr, Sie haben einen Gatten.«
    Cosette wurde zornig.
    »Aber das hat wirklich keinen Sinn mehr!«
    »Wenn Toussaint hier wäre«, begann Jean Valjean wieder, der sich auf andere zu berufen suchte, wie man in der Not nach dem schwächsten Ast greift, »so würde sie bestätigen, daß ich immer meine eigenen Ideen hatte. Das ist nichts Neues. Mir war mein Winkel im Dunkel immer lieb.«
    »Aber hier ist es kalt und gar nicht hell. Und es ist auch unerträglich, daß Sie sich Herr Jean nennen lassen wollen. Ich will auch nicht, daß Sie zu mir ›Sie‹ sagen. Ich bin wütend! Seit gestern haben es alle darauf abgesehen, mich zornig zu machen. Ich begreife überhaupt nichts mehr. Ich richte ein Zimmer aufs netteste ein – wenn ich den lieben Gott selber hineinsetzen hätte können – ichhätte es getan. Jetzt läßt man mir mein Zimmer stehen. Mein Mieter bleibt den Zins schuldig. Ich bestelle ein gutes kleines Abendessen – holla, schon will man nicht bei mir essen. Vater Fauchelevent will plötzlich Herr Jean heißen und nur in einem häßlichen, verschimmelten Keller empfangen werden, wo die Mauern einen Bart haben und wo es nichts gibt als leere Flaschen und Spinnweben! Sie sind sonderbar, das weiß ich, gut, es ist Ihre Art, aber Leuten, die jung vermählt sind, gewährt man Waffenstillstand. Sie hätten etwas später mit diesen eigentümlichen Neigungen hervortreten sollen. Und Sie sind vollkommen glücklich in dieser widerwärtigen Rue de l’Homme Armé? Ich war trostlos dort! Was haben Sie nur gegen mich? Pfui!«
    Dann wurde sie scharf, sah Jean Valjean ernst an

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