Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
geschah, daß Baske kam und bestellte:
»Herr Gillenormand läßt die Frau Baronin daran erinnern, daß bereits serviert ist.«
Sehr nachdenklich ging Valjean weg.
Einmal blieb er länger als gewöhnlich. Am nächsten Tag bemerkte er, daß der Kamin nicht geheizt worden war. Halt, dachte er, kein Feuer! Aber sofort fand er eine Erklärung. Es hat weiter nichts zu besagen, meinte er, wir sind im April, es ist nicht mehr kalt.
»Mein Gott, wie kalt es hier ist!« rief Cosette, als sie eintrat.
»Nicht doch!«
»Haben Sie Baske gesagt, er solle nicht heizen?«
»Ja. Wir sind bald im Mai.«
»Aber hier im Hause wird bis Juni geheizt. Dieser Keller da braucht das ganze Jahr Feuer.«
»Ich dachte, es wäre unnütz.«
»Das ist wieder eine von Ihren Ideen«, erwiderte Cosette.
Am nächsten Tag war geheizt, aber die beiden Lehnstühle standen in der anderen Ecke des Zimmers, gleich neben der Tür.
Was bedeutet das? fragte sich Jean Valjean.
Er stellte die Lehnstühle wieder an ihren alten Platz. Doch fand er einigen Trost darin, daß wieder geheizt war. Diesmal blieb er noch länger als sonst. Als er aufstand, um zu gehen, sagte Cosette:
»Gestern hat Marius etwas Sonderbares gesagt.«
»Was denn?«
»Er sagte: wir haben dreißigtausend Livres Rente. Siebenundzwanzigtausend von dir, dreitausend von meinem Großvater. Würdest du den Mut haben, mit dreitausend auszukommen?
Gewiß doch, sagte ich, mit dir natürlich. Aber warum fragst du? Ich wollte es nur wissen, sagte er.«
Jean Valjean hatte nichts dazu zu sagen. Cosette erwartete wohl von ihm eine Erklärung, aber er schwieg. Als er in die Rue de l’Homme Armé zurückkehrte, war er so versonnen, daß er das Haustor verwechselte und in ein Nachbarhaus eintrat. Erst im zweiten Stock bemerkte er, daß er sich geirrt hatte.
Allerlei Vermutungen beschäftigten ihn. Offenbar machte sich Marius Gedanken über den Ursprung der sechshunderttausend Franken und befürchtete, sie stammten aus einer unreinen Quelle. Vielleicht hatte er entdeckt, daß sie von ihm, Jean Valjean, kamen, und scheute sich vor diesem verdächtigen Reichtum. Er zog es sogar vor, mit Cosette in Armut zu leben, statt einen zweifelhaften Reichtum zu genießen.
Auch ahnte Jean Valjean, daß man ihn los sein wollte.
Am nächsten Tag erschrak er, als er in das Zimmer eintrat. Die Lehnstühle waren verschwunden. Nicht einmal ein Sessel war da.
»Ach, wo sind denn die Lehnstühle?« fragte Cosette, als sie eintrat.
»Fort«, erwiderte Jean Valjean.
»Aber das ist stark!«
»Ich habe Baske gesagt, er solle sie nehmen«, stammelte Jean Valjean.
»Und warum?«
»Ich bleibe nur einige Minuten.«
»Aber daß Sie kurz bleiben, ist doch kein Grund zu stehen!«
Cosette zuckte die Achseln.
»Heute lassen Sie die Lehnstühle hinausschaffen, neulich ließen Sie das Feuer löschen. Sie sind wirklich seltsam.«
»Adieu«, murmelte Jean Valjean.
Er sagte nicht: Adieu, Cosette, aber er brachte es auch nicht übers Herz zu sagen: Adieu, Frau Baronin.
Diesmal hatte er begriffen.
Am nächsten Tag kam er nicht. Cosette bemerkte es erst am Abend. Es tat ihr weh, aber ein Kuß Marius’ tröstete sie.
Und am zweitnächsten Tag kam er wieder nicht.
Cosette wurde nicht weiter aufmerksam, aber sie sandte Nicolette zu Herrn Jean, um zu fragen, warum er nicht gekommen sei. Nicolette brachte den Bescheid, Herr Jean habe viel zu tun, er werde bald kommen, sobald als möglich. Auch wolle er verreisen. Die gnädige Frau werde sich ja erinnern, daß er von Zeit zu Zeit verreisen müßte. Kein Grund, sich zu beunruhigen. Man möge sich nicht darüber Gedanken machen.
Sechstes Buch
Dunkelheit und letztes Licht
Letztes Aufflackern der verlöschenden Lampe
Eines Tages ging Jean Valjean die Treppe hinunter, ging einige Schritte auf der Straße und setzte sich auf jenen Prellstein, auf dem ihn in der Nacht vom 5. zum 6. Juni Gavroche gesehen hatte. Er blieb einige Minuten sitzen, dann stieg er wieder hinauf. Das war die letzte Schwingung des Pendels. Am nächsten Tag ging er nicht mehr aus. Und am übernächsten verließ er das Bett nicht mehr.
Die Pförtnerin, die seine bescheidene Mahlzeit bereitete, etwas Kohl, einige Kartoffeln und Speck, blickte in den irdenen Topf und sagte:
»Aber Sie haben ja gestern nichts gegessen, lieber Mann!«
»Doch.«
»Aber der Topf ist ja noch ganz voll!«
»Sehen Sie den Wasserkrug. Er ist ganz leer.«
»Das beweist nur, daß Sie getrunken haben, und wenn einer trinkt,
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