Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
aber nicht ißt, so ist das Fieber.«
»Ich werde morgen essen.«
»Oder am Dreifaltigkeitstag! Warum denn nicht heute? Wer sagt denn, ich esse morgen? Mein ganzes Essen unberührt lassen! Die Bohnen haben Sie nicht einmal angerührt, und sie waren doch so gut.«
Jean Valjean ergriff die Hand der alten Frau.
»Ich verspreche Ihnen, alles aufzuessen«, sagte er freundlich.
»Ich bin gar nicht zufrieden mit Ihnen«, entgegnete die Pförtnerin.
Jean Valjean sah keinen anderen Menschen als diese Frau. Es gibt in Paris Straßen, die kein Mensch benützt, Häuser, die niemand betritt. In einer solchen Straße und in einem solchen Hause wohnte Jean Valjean.
Eine Woche verstrich, ohne daß Jean Valjean ausging. Er blieb im Bett. Die Pförtnerin sagte zu ihrem Mann:
»Der gute Alte da oben steht nicht mehr auf und ißt nicht mehr.Das kann nicht lange dauern. Er hat wohl Kummer. Ich bin überzeugt, daß seine Tochter schlecht verheiratet ist.«
»Wenn er reich ist«, antwortete der Pförtner im Ton ehemännlicher Überlegenheit, »so kann er einen Arzt holen lassen, ist er arm, so kann er es nicht. Wenn er keinen Arzt holt, stirbt er.«
»Und wenn er doch einen holt?«
»Dann stirbt er auch«, erklärte der Pförtner.
Am selben Tage sah die Pförtnerin auf der Straße einen Arzt, der in jener Gegend wohnte. Sie bat ihn auf eigene Verantwortung, zu dem Alten hinaufzugehen.
Als der Arzt wieder herunterkam, fragte ihn die Pförtnerin:
»Nun, Herr Doktor?«
»Ihr Kranker ist wirklich krank.«
»Was hat er denn?«
»Alles und nichts. Soviel mir scheint, hat er jemand verloren, an dem er sehr hängt. Manche Leute sterben an solchen Sachen.«
»Und was hat er Ihnen gesagt?«
»Daß es ihm gut geht.«
»Kommen Sie wieder?«
»Ja, aber besser wäre, es käme ein anderer an meiner Statt.«
Erlöschen
Eines Abends hatte Jean Valjean Mühe, sich auf dem Ellbogen aufzurichten; er fühlte seinen Puls und fand ihn kaum. Sein Atem war kurz und setzte zuweilen ganz aus.
Von Todesahnungen aufgeschreckt, raffte er sich zusammen, stand auf und kleidete sich an. Dabei mußte er mehrere Male einhalten; als er in den Rock schlüpfte, trat ihm Schweiß auf die Stirn. Seit er allein war, hatte er sein Bett in das Vorzimmer gestellt, um die verödeten Räume möglichst wenig zu benützen.
Jeder Schritt, den er von einem Möbelstück zum andern tat, ermüdete ihn so sehr, daß er sich setzen mußte. Das war nicht die gewöhnliche Müdigkeit, die Erschöpfung ist und zugleich Sammlung neuer Kraft; es war der schwache Rest der Lebenskraft, die verströmt und sich nicht mehr erneuert.
Einer der Stühle, auf den er sich fallen ließ, stand vor dem Spiegel, der ihm einst so verhängnisvoll geworden war, als er darin CosettesSchrift las. Er blickte hinein und erkannte sich kaum. Er war achtzig Jahre alt! Bevor Cosette geheiratet hatte, hätte man ihm kaum fünfzig gegeben; dieses einzige Jahr zählte für dreißig. Auf seiner Stirn waren nicht die Runzeln des Greisenalters, sondern das geheimnisvolle Mal des Todes. Man fühlte die unerbittliche Klaue des Schicksals. Seine Wangen waren schlaff, die Haut hatte eine Farbe, die an Erde erinnerte; die beiden Mundwinkel waren herabgezogen wie bei den Masken, die man auf antiken Gräbern sieht. Vorwurfsvoll blickte er ins Leere.
Jetzt befand er sich im letzten Stadium der Verzweiflung, in jenem Zustand, wo der Schmerz sozusagen nicht mehr beweglich ist, sondern erstarrt; eine Schicht der Verzweiflung lag auf seiner Seele.
Es war dunkel geworden. Er schleppte sich mühsam an einen Tisch, auf dem Feder, Tinte und Papier bereitlag. Seine Hand zitterte, als er schrieb:
»Ich segne dich, Cosette. Du sollst alles wissen. Dein Gatte hat recht, daß er mir zu verstehen gab, ich sollte mich fortpacken; doch ist manches nicht wahr, was er glaubt; und doch hat er recht. Er ist ein vorzüglicher Mensch. Du sollst ihn immer lieben, wenn ich tot sein werde. Cosette, ich will Dir sagen, daß das Geld Dir gehört. So verhält es sich damit: der weiße Jett kommt aus Norwegen, der schwarze aus England, das schwarze Glas aus Deutschland. Jett ist leichter, kostbarer, teurer. Man kann in Frankreich Imitationen herstellen so gut wie in Deutschland. Dazu braucht man einen kleinen, zwei Quadratzoll großen Amboß und eine Spirituslampe, um die Wachsmasse zu schmelzen. Früher verwendete man Harz, das mit Ruß versetzt wurde und vier Franken pro Pfund kostete. Ich habe entdeckt, daß man auch Gummilack und
Weitere Kostenlose Bücher