Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
schönen Zähnen. Gold und Perlen waren ihre Mitgift, Gold auf dem Kopf und Perlen im Munde.
Mit ihren Händen erwarb sie sich ihr Brot; um zu leben, liebte sie schließlich, denn auch das Herz ist hungrig. Sie liebte Tholomyès.
Ihm war sie ein liebenswürdiger Zeitvertreib; er war für sie eine Leidenschaft. Die Straßen des Quartier Latin, in denen es von Studenten und Grisetten wimmelt, sahen den Beginn dieses kurzen Traumes. In diesem Straßengewirr des Panthéonhügels, wo so viele Abenteuer beginnen und enden, war Fantine Tholomyès lange davongelaufen, aber sie hatte es so eingerichtet, daß sie ihn immer wieder traf. Es gibt eine Art zu meiden, die dem Suchen gleicht. Kurz, die Idylle kam zustande.
Blachevelle, Listolier und Fameuil bildeten eine Gruppe, an deren Spitze Tholomyès stand. Er war gewissermaßen der Kopf.
Kein ganz junger Student mehr; und noch dazu reich, denn er hatte viertausend Franken Rente zu verzehren, ein Einkommen, das rings um Sainte Geneviève für splendid gelten kann. Tholomyès war ein Lebemann von dreißig Jahren und nicht besondersgut erhalten. Er hatte Falten und schlechte Zähne. Auch die Haare gingen ihm aus, und er selbst sagte ohne allzu große Trauer: Mit dreißig eine Glatze, mit vierzig kahl. Auch seine Verdauung war mangelhaft, und sein Auge tränte. Aber im Ausmaß, in dem seine Jugend erlosch, entzündete sich seine Heiterkeit; er ersetzte die Zähne durch Späße, die Haare durch vergnügte Einfälle, die Gesundheit durch Ironie; und sein tränendes Auge lachte ohne Unterlaß. Er war bereits entblättert und stand doch noch in Blüte. Seine Jugend machte sich vorzeitig auf den Weg, aber sie trat sozusagen einen geordneten Rückzug an. Ein Stück, das er für das Vaudeville geschrieben hatte, war abgelehnt worden. Von Zeit zu Zeit schrieb er Verse. Auch verschaffte es ihm eine gewisse Überlegenheit, daß er ein großer Zweifler war, was ja schwachen Köpfen immer gewaltig imponiert.
Eines Tages nahm Tholomyès die drei andern beiseite und sagte:
»Es ist jetzt ein gutes Jahr, daß Fantine, Dahlia, Zéphine und Favourite verlangen, wir sollten ihnen eine Überraschung bereiten. Wir haben es ihnen feierlich versprochen. Jetzt bekommen wir es immer zu hören, zumal ich. So wie in Neapel die alten Weiber dem heiligen Januarius zurufen: Faccia gialluta, fa un miracolo, Gelbgesicht, tu ein Wunder, ebenso sagen unsere Schönen ohne Unterlaß: Tholomyès, wann kommt die Überraschung? Nun, gleichzeitig bekommen wir von unseren Eltern Briefe. Wir sitzen zwischen zwei Feuern. Der kritische Augenblick ist da, wir müssen etwas tun.«
Tholomyès senkte die Stimme und sagte geheimnisvoll etwas so Lustiges, daß alle vier zu lachen begannen und Blachevelle vergnügt ausrief:
»Das ist eine Idee!«
Das Ergebnis war, daß in einer verräucherten Kneipe für nächsten Sonntag eine Landpartie verabredet wurde, zu der die vier jungen Mädchen eingeladen werden sollten.
Vier und vier
Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, wie sich vor fünfundzwanzig Jahren solch eine Landpartie von Studenten und Grisetten abspielte. Paris hat heute nicht mehr dieselbe Umgebung. Im letzten halben Jahrhundert hat sich rings um Paris alles verändert,und wo früher der Kuckuck rief, rattern jetzt Waggons; wo die Postkutsche kroch, fährt die Bahn, und an Stelle des Postschiffs ist der Dampfer getreten; für uns heute ist Fécamp, was damals Saint-Cloud war.
Die vier Paare begingen gewissenhaft alle Torheiten, die damals bei Ausflügen aufs Land möglich waren. Die Ferien hatten eben begonnen, es war ein warmer, sonnenheller Tag. Favourite, die einzige, die schreiben konnte, hatte im Namen der vier Frauen an Tholomyès geschrieben: früh aufstehen ist fein. Darum waren auch schon alle um fünf auf den Beinen gewesen. Sie fuhren in der Postkutsche nach Saint-Cloud, bewunderten den Wasserfall, der gerade trocken lag, und meinten, er müsse doppelt schön sein, wenn Wasser darin wäre. Dann frühstückten sie in der Tête-Noire, leisteten sich eine Rundfahrt auf dem Teich, besuchten die Laterne des Diogenes, spielten Roulette an der Brücke von Sèvres, pflückten in Puteaux Blumen, kauften in Neuilly Pfeifchen, aßen überall Apfelkuchen und waren bester Laune.
Um ganz glücklich zu sein, fehlte nur eine kleine Widerwärtigkeit, etwa ein unvorhergesehener Regenguß; denn Favourite hatte, als man aufbrach, in belehrendem und mütterlichem Ton erklärt:
»Die Schnecken kriechen über den Weg.
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