Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
würde die Polizei rufen! Nicht schämen würde ich mich! Canaille!«
Blachevelle lehnte sich entzückt zurück und schloß stolz die Augen.
Dahlia flüsterte Favourite kauend zu:
»Bist du wirklich so verrückt nach diesem Blachevelle?«
»Widerlich ist er mir«, sagte Favourite ebenso leise und nahm ihre Gabel. »Dieser Geizkragen! Ich bin verliebt in den kleinen vis-à-vis, weißt du, du kennst ihn doch? Er kehrt sehr den Schauspieler heraus. Ich mag Schauspieler gern leiden. Sooft er nach Hause kommt, jammert seine Mutter: Mein Gott, mein Gott, schon wieder hat man keine Ruhe! Gleich wird er zu schreien anfangen. Liebster, Bester, du bringst noch meinen Kopf zum Zerspringen! Er steigt nämlich immer bis zum Boden hinauf, so hoch es nur irgend geht, und singt und deklamiert da oben, und weiß Gott was noch! Natürlich hört man ihn unten! Und er verdient zwanzig Sous täglich bei einem Anwalt mit Schreibarbeiten. Er ist der Sohn eines alten Kantors von Saint-Jacques du Haut-Pas. Ein feiner Bursche. Er vergöttert mich so sehr, daß er eines Tages, als er mich Teigkneten sah, herüberrief: ›Mamsell, machen Sie Kuchen aus Ihren Handschuhen, ich werde sie essen!‹ So etwas Nettes können doch nur Künstler sagen. Ein prächtiger Mensch. Ich bin auf dem besten Wege, mich über beide Ohren in ihn zu verlieben. Aber das ist gleichgültig, darum sage ich Blachevelle doch, daß ich ihn anbete. Wie ich lieben kann, was?«
Und nach einer Pause fuhr sie fort:
»Mir ist recht elend, Dahlia. Den ganzen Sommer über hat es geregnet, und immer gab es Wind, obwohl ich keinen Wind ausstehen kann; Blachevelle ist furchtbar knauserig. Auf dem Markt kann man nicht einmal Bohnen bekommen, man weiß gar nicht mehr, was man auf den Tisch bringen soll. Ich habe den Spleen, wie die Engländer sagen. Und die Butter ist auch nicht mehr zu bezahlen. Das Schrecklichste ist, daß wir in einem Zimmer essen, in dem ein Bett steht. Das vergällt mir das ganze Leben.«
Und jetzt wandte sie sich an Tholomyès und fragte energisch:
»Wo bleibt die versprochene Überraschung?«
»Ach ja, jetzt wäre es wohl an der Zeit. Meine Herren, die Stunde hat geschlagen, die Damen sollen ihre Überraschung haben. Meine Damen, warten Sie einen Augenblick auf uns.«
»Vorher noch einen Kuß«, verlangte Blachevelle.
»Auf die Stirn«, mahnte Tholomyès.
Jeder küßte feierlich seine Geliebte auf die Stirn, dann marschierten die vier Männer der Reihe nach zur Türe hinaus, wobei sie die Zeigefinger vielsagend auf die Lippen legten.
Favourite klatschte in die Hände.
»Das fängt ja lustig an«, sagte sie.
»Bleibt nicht zu lange weg«, murmelte Fantine, »wir erwarten euch!«
Lustiges Ende eines Scherzes
Als die jungen Mädchen allein geblieben waren, legten sie sich zu zweien in die Fenster, beugten sich hinaus und begannen zu plaudern.
Sie sahen die jungen Leute aus dem Restaurant Bombarda Arm in Arm hinausmarschieren; die vier wandten sich um, winkten, lachten und verschwanden in der staubbedeckten Menge der sonntäglichen Spaziergänger auf den Champs-Elysées.
»Bleibt nicht zu lange!« rief ihnen Fantine noch einmal nach.
»Was sie uns wohl bringen wollen?« fragte Zéphine.
»Gewiß etwas Hübsches«, meinte Dahlia.
»Ich wollte, es wäre von Gold«, sagte Favourite.
Bald waren sie von dem Treiben am Ufer ganz in Anspruch genommen. Um diese Zeit gehen dort die Postkutschen und Diligencen ab. Die Champs-Elysées waren damals Ausgangspunkt aller Postrouten nach Süden und Westen; die meisten Diligencen folgten den Seinequais und fuhren durch das Tor von Passy hinaus. Der Reihe nach rasselten diese schwarz-gelb lackierten mächtigen, schwerfälligen, mit Gepäck überladenen und mit Menschen vollgestopften Gefährte in wildem Galopp funkensprühend und staubaufwirbelnd dahin. Der Lärm belustigte die jungen Mädchen. Favourite rief:
»Welch ein Getöse! Als ob ein Bündel Ketten zerrissen würde!«
Einmal hielt eine der Postkutschen, hinter den Ulmen schwer erkennbar, plötzlich an und setzte sich dann rasch wieder in Bewegung. Fantine wunderte sich.
»Sonderbar«, sagte sie, »ich dachte, die Postkutschen halten niemals auf der Strecke.«
Favourite zuckte die Achseln.
»Diese Fantine ist wirklich vom Mond gefallen. Ich bin immer neugierig, wenn ich sie besuche, man lernt nie aus. Die einfachsten Dinge sind ihr rätselhaft. Wenn ich ein Reisender bin und zur Post sage: ich geh ein wenig voraus, nehmen Sie mich drüben am Quai
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