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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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Hier und da konnte man ungewisse Formen von Gegenständen gewahren, in denen er des Tags auf den Tisch verstreute Papiere, aufgeschlagene Folianten, an ein Pult gelehnte Bände, einen Lehnstuhl, auf dem Kleidungsstücke lagen, einen Betschemel erkannt hätte, die aber jetzt nur als dunkle Umrisse und helle Flecken zu unterscheiden waren. Behutsam drang Jean Valjean vor, wobei er es sorgfältig vermied, an Möbel anzustoßen. Im Hintergrund des Zimmers war der ruhige, gleichmäßige Atem des schlafenden Bischofs zu vernehmen.
    Weiter drang er vor.
    Plötzlich blieb er stehen. Er stand vor dem Bett. Er hatte es früher erreicht, als er erwartete.
    Die Natur mischt zuweilen ihre Phänomene und Schauspiele fast planmäßig in unsere Handlungen, als ob sie uns nachdenklich stimmen wollte. Fast seit einer halben Stunde bedeckte eine große Wolke den Himmel. In dem Augenblick, da Jean Valjean vor dem Bett haltmachte, zerriß sie, und ein Streifen Mondlicht fiel durch das Fenster auf das blasse Gesicht des Bischofs. Er schlief friedlich. Auch im Bett war er fast bekleidet, trug – wohl infolge der kaltenNächte im Alpenvorlande – ein braunes Baumwollhemd, das auch die Arme bis zu den Händen bedeckte. Sein Kopf lag in der entspannten Haltung der Ruhe seitlich auf dem Kissen; die linke Hand, die den Hirtenring trug, diese Hand, die so viele gute Werke vollbracht hatte, hing aus dem Bett. Sein Antlitz spiegelte Zufriedenheit, Hoffnung und Glück. Es war mehr als ein Lächeln, fast ein Strahlen. Auf seiner Stirn ein unbeschreiblicher Widerschein eines unsichtbaren Lichts. Jener geheimnisvolle Himmel, den die Seele der Gerechten während des Schlafs durchwandelt.
    Jean Valjean hatte niemals etwas Ähnliches gesehen. Es war nicht zu beschreiben, was in ihm vorging; er selbst hätte es nicht angeben können. Es war eine Art tiefes Staunen. Was er dachte? Unmöglich zu erraten. Er war gerührt, tief beeindruckt. Aber welcher Art war seine Rührung? Er schien zugleich bereit, den Schädel des Greises einzuschlagen und ihm die Hand zu küssen.
    Plötzlich wandte er sich ab, ging, ohne sich weiter um den Bischof zu kümmern, an dem Bett entlang auf den Wandschrank zu und setzte sein Eisen an, um das Schloß aufzubrechen. Der Schlüssel stak. Er öffnete. Das erste, was er gewahrte, war der Korb mit dem Silberzeug. Er nahm ihn, durchmaß mit großen Schritten und ohne jegliche Vorsicht das Zimmer, achtete nicht auf das Geräusch seiner Schritte, sondern erreichte die Tür, trat wieder in das Betzimmer, öffnete das Fenster, nahm seinen Stock, stopfte das Silberzeug in seinen Tornister, warf den Korb fort, sprang in den Garten, setzte über die Mauer wie ein Tiger und floh.
Der Bischof bei der Arbeit
    Bei Sonnenaufgang erging sich Monsignore Bienvenu in seinem Garten. Frau Magloire kam in höchster Aufregung herbeigeeilt.
    »Monsignore«, rief sie, »wissen Sie, wo der Korb mit den Silbersachen ist?«
    »Ja.«
    »Gelobt sei Jesus Christus!« rief sie, »ich wußte nicht, wo er hingekommen war.«
    Der Bischof hatte den Korb auf einem Beet liegen gesehen. Er deutete darauf.
    »Da ist er.«
    »Leer! Und das Silber?«
    »Ach, Sie meinen das Silber? Ich weiß nicht, wo es ist.«
    »Großer Gott, gestohlen! Der Mann von gestern hat es gestohlen!«
    Mit der ganzen Behendigkeit einer flinken Alten stürzte Frau Magloire in das Gebetzimmer, lief in den Alkoven und kehrte zurück. Der Bischof hatte sich über eine Staude gebeugt, die von dem Korb geknickt worden war, und betrachtete sie seufzend. Auf Frau Magloires Geschrei wandte er sich um.
    »Monsignore, der Mann ist fort! Unser Silber ist gestohlen.«
    Während sie noch schrie, bemerkte sie in der Ecke des Gartens ein abgebröckeltes Mauerstück.
    »Sehen Sie, da ist er hinübergeklettert. Er ist in die Rue Cochefilet gesprungen. Diese Niedertracht! Unser ganzes Silber gestohlen!«
    Der Bischof schwieg einen Augenblick, dann sah er Frau Magloire ernst an und sagte sanft:
    »War es denn unser Silber?«
    Frau Magloire war sprachlos. Nach einer kurzen Pause fuhr der Bischof fort:
    »Frau Magloire, zu Unrecht habe ich dieses Silber so lange bei mir behalten. Es gehörte den Armen. Wer war denn jener Mann? Ein Armer gewiß doch.«
    »Ach, Herr Jesus!« rief Frau Magloire, »ich sag es ja nicht um meinetwillen oder wegen des Fräuleins, uns kann es ja recht sein, aber wie wollen Bischöfliche Gnaden denn jetzt essen?«
    Verwundert sah sie der Bischof an.
    »Ach, als ob es nicht Bestecke aus Zinn

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