Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Bildung ermangelte.
Laster kannte er nicht. Wenn er mit sich selbst zufrieden war, bewilligte er sich eine Prise Tabak. Das war die einzige Schwäche, die ihn menschenähnlich machte.
Man wird unschwer begreifen, daß Javert der Schrecken aller jener Leute war, die im statistischen Jahresbericht des Justizministeriums in der Rubrik »ohne festen Aufenthaltsort« geführt werden. Allein schon Javerts Name brachte sie aus der Fassung; tauchte er auf, so erstarrten sie zu Stein.
Das war der Mann. Das war Javert, der ein Auge auf Herrn Madeleine hatte, ein argwöhnisches, mißtrauisches Auge. Herr Madeleine hatte es wohl gemerkt, doch schien er nicht darauf zu achten. Er stellte Javert nicht zur Rede, suchte ihn nicht, wie er ihn auch nicht mied, ertrug diesen peinlichen Blick, ohne sich darum zu kümmern. Er behandelte Javert wie alle anderen Menschen, unbefangen und gütig.
Aus einigen Äußerungen, die Javert entschlüpften, konnte man erfahren, daß er heimlich mit der angeborenen Neugierde seinesMenschenschlags nach der Herkunft Herrn Madeleines forschte. Er schien zu wissen und ließ es sogar durchblicken, irgend jemand habe irgendwo über eine verschollene Familie Nachforschungen angestellt. Einmal sagte er im Selbstgespräch ganz laut:
»Ich hab’s!«
Dann war er drei Tage lang versonnen und schweigsam geblieben. Offenbar war ihm der Faden, den er bereits in Händen hielt, wieder abgerissen.
Einmal aber schien Javerts seltsames Fragen auch auf Herrn Madeleine Eindruck zu machen. Und das geschah bei folgender Gelegenheit.
Vater Fauchelevent
Eines Morgens durchschritt Herr Madeleine eine ungepflasterte Straße von Montreuil sur Mer. Er hörte Lärm und bemerkte eine Ansammlung von Menschen. Er trat näher und sah, daß ein alter Mann, der Vater Fauchelevent genannt wurde, unter einen Wagen gestürzt war, nachdem sein Pferd die Fuhre umgeworfen hatte.
Dieser Fauchelevent war einer der wenigen Feinde, die Herr Madeleine damals noch hatte. Als Madeleine in die Stadt gekommen war, betrieb Fauchelevent, ein ehemaliger Amtsschreiber, einen Handel, der schlecht zu gehen begann. So hatte Fauchelevent sehen müssen, wie ein einfacher Arbeiter reich wurde, während er, der diplomiert war, herunterkam. Das hatte ihn neidisch gestimmt, und seither nahm er jede Gelegenheit wahr, um Madeleine zu schaden. Als er bankrott machte, blieb ihm nur ein Pferd und ein Wagen, und so mußte er, da er ohne Familie und Kinder war, als Fuhrmann sein Brot suchen.
Das Pferd hatte beide Beine gebrochen und konnte sich nicht mehr erheben. Der Alte war zwischen die Räder geklemmt und lag so unglücklich, daß die ganze schwere Fuhre auf seiner Brust lastete. Und der Wagen war schwer beladen. Vater Fauchelevent stöhnte jämmerlich. Man hatte versucht, ihn herauszuziehen, aber vergebens. Ein falsch angesetzter Stoß, eine ungeschickte Hilfeleistung konnten ihn ums Leben bringen. Man konnte ihn aus seiner gefahrvollen Lage nur befreien, indem man den Wagen hochhob. Javert, der im Augenblick des Unglücksfalles zur Stelle gewesen war, hatte um eine Winde geschickt.
Als Madeleine näher trat, wurde ihm respektvoll Platz gemacht.
»Ist denn keine Winde zur Hand?« fragte er.
»Man hat bereits um eine gesandt«, erwiderte ein Bauer.
»Wann wird sie kommen?«
»Es ist nicht weit, aber eine Viertelstunde wird es wohl dauern.«
»Unmöglich, eine Viertelstunde!« rief Madeleine.
Es hatte am Tage zuvor geregnet, der Erdboden war aufgeweicht, und das umgeworfene Gefährt sank von Augenblick zu Augenblick tiefer ein, so daß die Brust des alten Fuhrmanns immer schwerer belastet wurde. Es konnte keine fünf Minuten mehr dauern, bis seine Rippen zerschmettert waren.
»Wir können unmöglich noch eine Viertelstunde warten«, sagte Madeleine zu den Bauern, die ihn nicht aus den Augen ließen.
»Es wird nichts anderes übrigbleiben.«
»Seht ihr denn nicht, daß der Wagen einsinkt?«
»Weiß Gott, allerdings …«
»Hört«, sagte Madeleine, »es ist noch genug Platz unter dem Wagen, daß ein Mann hineinschlüpfen und das Gefährt mit dem Rücken hochheben kann. Er braucht es nur eine halbe Minute zu halten, inzwischen wird der arme Mensch herausgezogen. Ist unter euch einer, der Muskel und ein Herz hat? Ich setze fünf Louisdor aus.«
Niemand rührte sich.
»Zehn Louisdor«, sagte Madeleine.
Alle blickten zu Boden. Einer murmelte:
»Dazu gehörte ja eine Teufelskraft. Und man riskiert, zu Brei zerquetscht zu werden.«
»Vorwärts«,
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