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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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respektvoll den Bürgermeister, der ihm noch immer den Rücken zuwandte. Er trat zwei oder drei Schritte vor, dann blieb er stehen, ohne das Schweigen zu brechen.
    Ein Physiognomiker, der mit Javerts Art vertraut gewesen wäre und diesen Wilden im Dienste der Zivilisation, diese bizarre Mischung aus Römer und Spartaner, Mönch und Korporal, diesen Spitzel, der nicht zu lügen vermochte, seit längerer Zeit studiert hätte, ein solcher Physiognomiker, der noch dazu die alte geheime Abneigung Javerts gegen Madeleine gekannt und den Inspektor in diesem Augenblick gesehen hätte, wäre vor die Frage gestellt worden: Was ist mit diesem Mann vorgegangen? Offenbar hatte er eine heftige innere Erschütterung überstanden. Wie alle heftigen Menschen war er jähen Stimmungsumschlägen ausgesetzt. Wie er so eintrat und sich vor Madeleine verneigte, mit einem Blick ohne Groll, Zorn und Mißtrauen, wie er einige Schritte hinter dem Lehnstuhl des Bürgermeisters stehenblieb, fast in der Haltung eines Schuljungen, in der naiven Gebärde eines Menschen, der nie sanft, aber immer geduldig war, machte er einen höchst seltsamen und verblüffenden Eindruck. Er wartete, ohne ein Wort zu sagen oder sich zu bewegen, in aufrichtiger Demut und ruhiger Ergebung, bis es dem Herrn Bürgermeister belieben würde, sich umzuwenden. Sein ganzes Wesen atmete Niedergeschlagenheit und Entschlossenheit zugleich.
    Endlich legte der Bürgermeister die Feder beiseite und wandte sich halb um.
    »Nun, was gibt’s, Javert?«
    Javert blieb einen Augenblick stehen, als ob er sich sammle, dann sagte er mit trauriger Feierlichkeit, aber doch einfach:
    »Herr Bürgermeister, ein schweres Vergehen ist begangen worden.«
    »Was denn?«
    »Ein niedriger Beamter hat es an Respekt gegen eine übergeordnete Persönlichkeit fehlen lassen. Ich komme zu Ihnen, Herr Bürgermeister, um Ihnen diese Tatsache pflichtgemäß zur Kenntnis zu bringen.«
    »Wer ist der Beamte?«
    »Ich«, sagte Javert.
    »Sie selbst?«
    »Jawohl, Herr Bürgermeister.«
    »Und wer ist der Vorgesetzte, der sich über Sie zu beklagen hat?«
    »Sie, Herr Bürgermeister.«
    Madeleine richtete sich in seinem Lehnstuhl auf. Javert fuhr ernst und mit gesenkten Augen fort:
    »Herr Bürgermeister, ich bitte Sie, meine Amtsentsetzung zu beantragen.«
    Madeleine wollte sprechen. Aber Javert fiel ihm ins Wort.
    »Sie werden sagen, Herr Bürgermeister, daß ich meine Entlassung einreichen könnte, aber das genügt nicht. Man nimmt seinen Abschied in allen Ehren. Ich aber habe ein Vergehen begangen und muß bestraft werden. Ich muß aus dem Dienst gejagt werden«, und nach einer Pause fuhr er fort: »Sie sind unlängst mit Unrecht streng gegen mich gewesen. Seien Sie es diesmal mit Recht.«
    »Aber was denn?« rief Madeleine, »was soll das alles nur? Wo ist denn dieses Vergehen, das Sie gegen mich begangen haben? Sie wollen aus dem Dienst ausscheiden …«
    »Entlassen werden.«
    »Gut, entlassen werden. Aber ich verstehe kein Wort.«
    »Sie werden gleich verstehen, Herr Bürgermeister.« Er seufzte tief auf, dann fuhr er traurig und kalt fort: »Vor sechs Wochen, gleich nach jener Szene mit dem Mädchen, habe ich Sie in meinem Zorn denunziert.«
    »Denunziert?«
    »Bei der Pariser Polizeipräfektur.«
    Madeleine pflegte nicht öfter zu lachen als Javert, aber jetzt lachte er.
    »Weil ich als Bürgermeister mich über die Polizei gestellt habe?«
    »Nein, als alten Galeerensträfling.«
    Der Bürgermeister erblaßte.
    Ohne aufzublicken, fuhr Javert fort:
    »Ich glaubte es selbst. Seit langem ging mir das im Kopf herum. Eine Ähnlichkeit, eine Auskunft, die Sie in Faverolles eingeholt haben, Ihre Kraft, Ihr Bein, das ein wenig lahmt, weiß Gott, was noch alles! Dummheiten! Aber schließlich kam ich so weit, daß ich Sie für einen gewissen Jean Valjean hielt.«
    »Für einen gewissen …? Wie war der Name?«
    »Jean Valjean. Das ist ein Galeerensträfling, den ich vor zwanzig Jahren sah, als ich in Toulon im Dienst war. Als er aus dem Bagno entlassen wurde, hat dieser Jean Valjean, wie behauptet wird, bei irgendeinem Bischof einen Diebstahl begangen. Dann ist er verschwunden, und seit acht Jahren hat man ihn vergeblich gesucht.Ich hatte mir fest eingebildet … nun, ich habe es getan. Zum Schluß gab der Zorn den Ausschlag, ich habe Sie bei der Präfektur angezeigt.«
    Madeleine hatte das Aktenbündel wieder vorgenommen und fragte vollkommen gleichgültig:
    »Und was hat man Ihnen geantwortet?«
    »Daß ich

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