Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
ein Narr bin.«
»Nun, und?«
»Nun, man hat recht.«
»Es ist ein Glück, daß Sie das einsehen.«
»Ich muß wohl, denn der richtige Jean Valjean ist gefunden.«
Das Blatt, das Herr Madeleine in Händen hielt, fiel auf den Tisch, er hob den Kopf, sah Javert fest an und rief mit unbeschreiblichem Ausdruck:
»Im Ernst?«
»So ist es, Herr Bürgermeister. Irgendwo bei Ailly-le-Haut-Clocher wohnt ein Kerl, der sich Champmathieu nennen läßt. Ein armseliger Mensch. Niemand achtet auf ihn. Solche Leute leben eben … wovon, das weiß niemand. Kürzlich, im letzten Herbst, ist dieser Champmathieu verhaftet worden, weil er bei irgendeinem … es ist ja gleichgültig … Mostäpfel gestohlen hat. Also Diebstahl, Einbruch in einen Garten, Beschädigung eines Baumes durch Abbrechen von Ästen. Mein Champmathieu wird verhaftet, mit dem Ast in der Hand. Man sperrt ihn ein. Das ist nichts weiter als ein kleines Vergehen, nicht der Rede wert. Aber hier setzt die Vorsehung ein. Der Polizeikutter war in unmöglichem Zustand, darum läßt der Untersuchungsrichter Champmathieu nach Arras ins Departementsgefängnis bringen. Dort sitzt ein alter Galeerensträfling, ein gewisser Brevet, den man noch immer zurückhält, der aber, weil er sich gut geführt hat, Zellenaufseher geworden ist. Herr Bürgermeister, stellen Sie sich vor: Dieser Champmathieu ist noch nicht in der Zelle, da ruft dieser Brevet auch schon: ›Ach, den kenn ich ja! Der ist „Langjähriger“. Schau mich doch nur an, mein Bester! Du bist Jean Valjean. Jean Valjean?‹ Der Champmathieu tut ganz erstaunt. ›Tu nicht, als ob du von gestern wärst‹, sagte Brevet. ›Du bist Jean Valjean und warst in Toulon im Bagno, vor zwanzig Jahren. Wir kennen uns von dort!‹ Champmathieu leugnet natürlich. Das ist ja begreiflich. Man geht der Sache nach und findet folgendes: dieser Champmathieu war vor dreißig Jahren Baumschererin verschiedenen Orten, unter anderm auch, wie ausdrücklich festgestellt worden ist, in Faverolles. Dann geht seine Spur verloren. Viel später taucht er in der Auvergne auf, dann in Paris, wo er, wie behauptet wird, Zimmermann war und eine Tochter hatte, eine Wäscherin. Aber das ist nicht bewiesen. Was war also dieser Jean Valjean, bevor er wegen erwiesenen Diebstahls auf die Galeeren kam? Baumscherer. Wo? In Faverolles. Noch etwas. Dieser Valjean hieß mit seinem Taufnamen Jean und seine Mutter mit Familiennamen Mathieu. Was ist begreiflicher, als daß er nach seiner Flucht aus dem Bagno den Namen seiner Mutter annahm, um seine Spur zu verwischen, und sich Jean Mathieu nannte? Gut, er ging in die Auvergne. Dort sagt man nicht Jean, man spricht den Namen dort Schan aus und nennt ihn kurzerhand Schan Mathieu. Das läßt sich der Mann gern gefallen und schreibt sich von nun an Champmathieu. Sind Sie mir gefolgt? Nun, man zieht in Faverolles Erkundigungen ein. Die Familie des Jean Valjean existiert nicht mehr. Spurlos verschwunden. Sie wissen, in diesen Kreisen verschwindet eine Familie, ohne daß etwas auffällt. Wenn solche Leute nicht gerade im Kot leben, so doch im Staub. Auch liegt diese ganze Geschichte dreißig Jahre zurück, und in Faverolles ist kein Mensch zu finden, der sich an Jean Valjean erinnert. Man fragt in Toulon nach. Außer Brevet sind noch zwei Sträflinge da, die Jean Valjean gekannt haben, zwei ›Lebenslängliche‹, Cochepaille und Chenildieu. Man holt sie aus dem Bagno und schafft sie nach Arras. Sie werden dem angeblichen Champmathieu gegenübergestellt. Ohne zu zögern, entscheiden sie sich. Er ist für sie, wie für Brevet, Jean Valjean. Dasselbe Alter – vierundfünfzig Jahre – dieselbe Figur, dasselbe Aussehen, nun, der gleiche Mann. Das war gerade in dem Augenblick, als ich meine Denunziation an die Pariser Präfektur sandte. Man antwortet mir, ich sei wohl verrückt, der besagte Jean Valjean befinde sich in Arras und sei in den Händen der Justiz. Sie begreifen, wie erstaunt ich war, da ich doch glaubte, eben diesen Jean Valjean hier am Wickel zu haben. Ich schrieb dem Untersuchungsrichter. Er läßt mich kommen, ich werde dem Champmathieu gegenübergestellt …«
»Nun?«
Unbeirrbar und traurig fährt Javert fort:
»Herr Bürgermeister, was wahr ist, muß wahr bleiben. Es tut mir leid, aber er ist Jean Valjean. Auch ich habe ihn wiedererkannt.«
Madeleine fragte sehr leise: »Sind Sie dessen sicher?«
Javert lachte schmerzlich auf, wie jemand, der vollkommen überzeugt ist.
»Ganz sicher. Und jetzt,
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