Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
ich wünsche nicht, daß Sie mich gütig behandeln, denn als Sie zu andern gütig waren, habe ich es auch nicht gewollt. Darum darf ich es auch nicht für mich annehmen. Eine Güte, die es zuwege bringt, einer gemeinen Hure gegen einen Bürger recht zu geben, einem Polizeiagenten gegen einen Bürgermeister, kurz, dem Niedrigen gegen den Hochgestellten, das ist eine schlechte Güte; solch eine Güte müßte die Grundfesten der Gesellschaft zerstören. Seien Sie versichert, Herr Bürgermeister, wenn Sie der wären, für den ich Sie hielt, wäre ich gar nicht gut zu Ihnen, das hätten Sie wohl gemerkt! Im Interesse des Dienstes verlange ich, daß ein Exempel statuiert wird. Ich verlange ganz einfach die Dienstenthebung des Inspektors Javert.«
Alles das war in einem zugleich demütigen und stolzen, verzweifelten und festen Ton gesprochen.
»Nun, wir werden ja sehen«, meinte Madeleine. Und er reichte ihm die Hand. Javert fuhr zurück und rief zornig:
»Herr Bürgermeister, das geht nicht, ein Bürgermeister hat einem gemeinen Spitzel nicht die Hand zu geben.«
Dann verneigte er sich und ging.
Siebentes Buch
Der Fall Champmathieu
Schwester Simplice
An dem Nachmittage nach Javerts Besuch ging Madeleine wie gewöhnlich zu Fantine. Bevor er an ihr Bett trat, ließ er Schwester Simplice rufen.
Die beiden Nonnen, die in Madeleines Spital Dienst taten, waren Lazaristinnen – wie alle barmherzigen Schwestern – und hießen Schwester Perpetua und Schwester Simplicia.
Perpetua war eine Bäuerin wie jede andere auch, eine plumpe Person, die bei Gott in Dienst getreten war, wie man sonstwo in Dienst tritt. Nonne war sie, wie man Köchin ist. Diese Type ist nicht besonders selten. Die Klöster nehmen solche Bauersleute gern auf und bilden aus ihnen leicht Kapuziner und Ursulinerinnen. Diese groben Leute vom Land leisten gewissermaßen die religiöse Hausarbeit. Man wird unschwer vom Kuhhirten zum Karmeliter. Das kostet keine große Mühe. Das Leben auf dem Dorf und im Kloster setzt die gleiche Unwissenheit voraus, Mönch und Bauer stehen auf der gleichen Stufe. Man verlängere ein wenig den Kittel, und die Kutte ist fertig. So war auch Schwester Perpetua, die aus Marines bei Pontoise stammte, eine Nonne, die ihren Dialekt beibehalten hatte, mit den Kranken nicht sonderlich schonungsvoll umging und sogar einem Sterbenden den lieben Gott ins Gesicht warf, wenn es darauf ankam.
Schwester Simplice war weiß wie Wachs, und wenn man sie mit Perpetua verglich, war sie eine Wachskerze gegen ein Stearinlicht. Wie alt sie war, hätte niemand anzugeben gewußt, denn sie sah nicht aus, als ob sie jemals jung gewesen wäre oder einmal alt werden sollte. Jedenfalls war sie ein Geschöpf – wir wagen nicht zu sagen, eine Frau – von großer Ruhe, gutem Betragen, kühlem Empfinden … und sie hatte nie gelogen. So sanft war sie, daß sie gebrechlich scheinen konnte, aber doch wieder hart wie Granit. Die Kranken faßte sie mit sanften, weichen Fingern an. In ihrer Rede war, möchten wir sagen, schon das Schweigen, denn sie sprach nur das Allernötigste, und ihre Stimme war so sanft, daß sie im Beichtstuhl ebenso angenehm geklungenhätte wie im Salon. Wir sagten bereits, daß sie niemals gelogen oder auch nur aus berechtigtem Interesse oder gleichgültig irgend etwas gesagt hatte, was nicht die reinste Wahrheit war; das war ihr besonderer Wesenszug, ihre betonte Tugend. Wegen dieser unbeirrbaren Wahrheitsliebe war sie in der ganzen Kongregation berühmt. Als sie bei dem heiligen Vincenz von Paula ihr Gelübde ablegte, hatte sie den Namen Simplicia gewählt. Die Sizilianerin Simplicia ist, wie der Leser wohl weiß, jene Heilige, die sich lieber die Brüste ausreißen ließ als sagte, sie sei aus Segesta, da sie doch in Syrakus geboren war – obwohl diese Lüge ihr das Leben gerettet hätte. Das war die passende Schutzheilige für dieses Geschöpf.
Als sie in den Orden eingetreten war, war sie mit zwei kleinen Fehlern behaftet, von denen sie sich allmählich etwas entwöhnt hatte; sie liebte Süßigkeiten und bekam gern Briefe.
Dieses fromme Mädchen hatte eine Zuneigung zu Fantine gefaßt, deren verborgene Tugend sie wohl fühlte, und hatte sich zu ihrer besonderen Pflege erbötig gemacht. Madeleine nahm sie beiseite und empfahl ihr Fantine mit einem Nachdruck, der der Schwester später noch oft in Erinnerung kam.
Dann trat er zu Fantine.
Sie erwartete jeden seiner Besuche wie einen Lichtstrahl. Zu der Schwester hatte sie gesagt:
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