Lesereise Finnland
welchem entlegenen Zipfel des Archipels – geradezu ehrfurchtsvoll von »der Stadt« sprechen. Für sie sind zwei Holzhütten bereits ein Dorf und drei Häuser eine Stadt. Mariehamn wird so zum New York der Ålands und ist spätestens deshalb eine multikulturelle Metropole von Rang, weil es dort ein vietnamesisches Restaurant und eine Boutique mit Mode aus Italien gibt.
Politisch gehört die Inselwelt mit ihren rund fünfundzwanzigtausend Einwohnern – knapp die Hälfte davon in Mariehamn – zu Finnland, obwohl auf den entmilitarisierten Eilanden fast ausschließlich Schwedisch gesprochen wird. Fischer Alf Isaakson auf der Åland-Insel Föglö stellt Zufallsgästen vom Festland stets ungefragt seinen in der Sonne dösenden Kater vor, um bei dieser Gelegenheit vor allem die Begründung für seine Namensgebung loszuwerden und auf die Reaktion zu warten: »Gustav heißt er. Wie der König von Schweden …«
Festlandfinnen und Åländer begegnen sich stets frotzelnd und mit gewisser Skepsis. Ein Abgeordneter des finnischen Reichstags schlug vor Jahren sogar vor, die Ålands mitsamt den eigensinnigen Insulanern doch am besten gegen das seit dem Zweiten Weltkrieg russisch besetzte und bis dato finnische Ostkarelien einzutauschen … Die finnisch-åländischen Animositäten haben ihre Wurzeln in der Geschichte. Während die große Mehrheit der Insulaner nach dem Ende der russischen Vorherrschaft für den Anschluss an Schweden votierte, beanspruchte Finnland die Ålands schon 1917 unmittelbar nachdem es seine Unabhängigkeit von Russland erklärt hatte. Zuvor hatten dort abwechselnd vornehmlich Schweden und Russen das Sagen, und schon im Frieden von Paris 1856 wurde die Inselgruppe zu »neutralem Gebiet« erklärt. Der Völkerbund befasste sich 1921 mit dem Problem und sprach den Archipel allen Einsprüchen zum Trotz Finnland zu – allerdings unter zahlreichen Auflagen.
Die Ålands genießen seitdem einen souveränitätsähnlichen Status, der beispielsweise Reedern finanzielle Vorteile beschert, wenn sie ihre Schiffe auf den Inseln registrieren. Offenbar lohnt es sich, denn zumindest im Ostseeraum prangt ungewöhnlich oft der Heimathafen-Schriftzug »Mariehamn«, alternativ das gleichbedeutende finnische »Maarianhamina« am Heck der Handelsschiffe. Darüber hinaus darf die Inselregierung eigene Briefmarken herausgeben. Und an den Fahnenmasten wird eine eigene åländische Flagge vom Wind gezaust: ein rot-gelb abgesetztes skandinavisches Kreuz auf blauem Grund.
Trotz mancher verwaltungsrechtlicher Distanzen und des ausgeprägten åländischen Selbstbewusstseins fühlen die Insulaner im Zweifel eher finnisch. Sie sehen sich selten vor die Wahl gestellt und vermeiden jede Festlegung, die mit dem åländischen Patriotismus kollidieren könnte. Trotzdem jubeln sie zu Hause vorm Fernseher mit den Finnen, wenn »ihre« – sie würden lieber sagen: deren – Nationalmannschaft die Schweden beim Eishockey besiegt. Vielleicht nur, weil Zuschauen so langweilig wie der Winter werden könnte, wenn man für beide fieberte …
Alteingesessene Insulaner – und das sind fast alle – fürchten sich davor, Festlandschweden könnten die Inseln eines Tages im Handstreich aufkaufen und eine riesige Ferienhauskolonie daraus machen. Deshalb ist das åländische Heimatrecht als Selbstschutz gegen den verspotteten »Volvo-Imperialismus« der nahen Nachbarn eng ausgelegt. Ausländern wird es fast unmöglich gemacht, auf den Inseln Besitz zu erwerben – Europäische Union hin oder her.
Der Wind auf Brändö hat etwas gegen Radler. Er weht immer aus der falschen Richtung. Nie von hinten, nur von vorn. Und meistens heftig. Er dreht, wenn die Straßen ihren Verlauf ändern und passt sich jedem neuen Kurs an. Im Zweifel schafft er es, gleichzeitig aus allen Himmelsrichtungen zu wehen. Sei’s drum.
Brändö besteht im Wesentlichen aus Brücken, die karge Felsen mit anderen Felsen verbinden, auf denen kleine Wäldchen stehen. Man hat sie hinter sich gelassen, ehe man einmal in einen anderen Gang geschaltet hat – egal ob per Fahrrad oder per Auto. Die nächste Brücke führt auf den nächsten Felsen und auch das nächste Wäldchen auf dem übernächsten Felsen ist schon wieder in Sichtweite. Brändö an der Ostflanke der Ålands ist eher ein eigener Archipel als eine einzelne Insel. Und Brändö ist der Rückzugsort von Kristina.
Ihr Nachname bleibt im unkomplizierten Skandinavien auf der Strecke. Selbst im Örtchen Fiskö an der
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