Lesereise Finnland
Nordspitze kennt ihn niemand. Mit strahlenden Augen und der Fähigkeit, andere für die skurrilsten Ideen zu begeistern, erzählt sie von ihrem »Institutet för levande föda«, das sie dort vor einigen Jahren gegründet hat. Das Sanatorium stört keinen, aber umgekehrt würde es auch niemand vermissen – erst recht keiner von den verschrobenen Åländern. Wörtlich übersetzt bedeutet es ungefähr »Institut für Lebendfutter«.
Als vermeintliches Allheilmittel für eine unübersichtliche Vielzahl von Krankheiten kredenzt Kristina Patienten und Naturfreaks, die sich bei ihr je nach persönlicher Sichtweise zu Behandlung, Erholung oder Verpflegungsfolter mit Absicht oder aus Versehen einquartieren, dreimal täglich ausschließlich Grünzeug in, vorsichtig gesagt, sehr reduzierter Zubereitungsform. Vor allem åländische Radieschen, unter Kunstlicht kellergezogene Keimlinge verschiedenster Art und japanische Import-Trockenalgen, dazu frisches Quellwasser. Kein Wunder, dass es folgerichtig in der Küche ihres sanatoriumsähnlichen Hauses keinen Herd und keine Feuerstelle gibt. Rohkost ist angesagt, denn bringt man Gemüse in Topf oder Pfanne um, kann es nicht mehr als »Lebendfutter« auf den Teller kommen. Roh ist wirklich roh, und schon eine Prise Salz, irgendein kühnes Gewürz oder eine diskrete Beilage könnte die Heilkraft eines Radieschens beeinträchtigen und bleiben deshalb verbannt.
So sehr Kristina für ihr Projekt einnimmt, so groß wird die Skepsis beim unattraktiv-faden Selbstversuch mit dem Trockenalgen-Snack – erst recht nach einem muskelkaterträchtigen Gegenwindritt. Da kann auch das hausgemachte Öko-Dressing aus in irgendeine Richtung drehendem Lebendjoghurt nur noch wenig retten. Genau genommen: nichts.
Lange, erzählt sie, habe sie als Zugewanderte ohne åländische Vorfahren gegen Vorbehalte und Widerstände der alteingesessenen Bauern und Fischer von Fiskö kämpfen müssen. Erst habe man ihr gar kein Haus vermieten, kein Land verpachten wollen. Selbst Wegerecht sei ihr zeitweise verweigert worden. »Inzwischen bin ich zumindest einigermaßen akzeptiert.« Sie lächelt, kaut einen Algen-Snack und nippt an ihrem Weizengras-Drink. Gerade erst hat sie die jungen Halme pflückfrisch durch die Mangel gedreht und den grünen Extrakt mit ein wenig Wasser gestreckt: »Ein kleiner Schluck stärkt. Ein ganzes Glas würde nur müde machen.« Seit die Nachbarn gemerkt haben, wie angenehm verschroben Kristina und wie selbstgestrickt und konsequent ihre Philosophie ist, mögen sie sie insgeheim. Aus ihr könnte eine typische Åländerin werden. Ein paar Generationen Training könnten genügen.
Der Magen knurrt noch lautstark und unnachgiebig, doch Kristina wäre untröstlich, wüsste sie, dass ihre radelnden Gäste dieses Abends in Fiskö den einzigen Taxifahrer auftreiben, dessen Frau wiederum den einzigen kleinen Laden dort führt und vom Gatten umgehend herbeichauffiert wird. Zu später Stunde öffnet sie das Geschäft aus karitativen Gründen zum Privatverkauf und ermöglicht erstmal einen kräftigen Griff in die Wurstauslage. »Das ist nichts Neues«, lacht sie. »Lebendfutter-Urlauber schleichen sich immer wieder mal an, um heimlich was Handfestes zu erstehen …« Auch deshalb mag sie Kristina insgeheim.
Manche Spontaneinkäufer hat sie bereits zu sich nach Hause eingeladen, hat aus einem Reis- und Grießbrei, der mit Eiern, Milch, Zucker und Kardamom versetzt wird, pankoka gebacken – die typischen åländischen Pfannkuchen, die dick mit Pflaumenmus bestrichen werden. Traditionsverbundene Åländer werden zum pankoka stets von fernen Tagen erzählen und in der Vergangenheit schwelgen, im »Damals«, als es noch Sitte war, Gästen als Aperitif wahlweise pankoka oder Likör anzubieten. »Früher«, erzählt die Frau aus Fiskö, »führte der erste Griff immer zum pankoka, heute zum Schnaps.« Sie lächelt. Und serviert beides.
Der Wind schläft am nächsten Morgen noch und die Straßen sind so verwaist wie am Vortag. Einsam liegen in satten Farbtönen gestrichene Holzhäuser am Weg. Dunkelrot sind sie, kraftvoll gelb, manchmal dunkelgrün. Und alle haben sie Blumenkästen.
Im Hightech-Finnland hatten die Ålands die erste Chipsfabrik der Nation. »Es ist die einzige Industrieansiedlung der Inseln«, erzählt ein redseliger Bauer in holperigem Englisch während der Fährüberfahrt von Torsholma im Süden Brändös zur Insel Kumlinge. »Talar ni engelska – sprechen Sie Englisch?«, hat er
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