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Lesereise Finnland

Lesereise Finnland

Titel: Lesereise Finnland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Sobik
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wildes Tier ist. Im Schweinsgalopp geht es durch den Wald mit den hüfthohen Tannen, die auf flüchtige Kollisionen mit dem Schlitten und unbeabsichtigte Armstöße der kreischenden Passagiere noch recht nachgiebig reagieren. Problematisch wird es erst, wenn Jussu Kurs auf den Birkenhain hinterm Haus nimmt. Im Flugzeug wäre das der Moment, wo man sicherheitshalber schon mal nach der handlichen Tüte in der Sitztasche mit dem nichtssagenden »Please-help-yourself«-Aufdruck hangelt.
    Der Weihnachtsmann hätte zu diesem Zeitpunkt bereits ein gutes Drittel der Geschenke in der Tannenschonung verloren und wäre am 24. Dezember in Erklärungsnot geraten. Heute macht das nichts. Schließlich geht es um ein typisch nordskandinavisches Wintererlebnis, und was hier typisch ist, entscheidet das Rentier.
    Jussu donnert ungebremst weiter über den schneebedeckten Waldboden. Der Schlitten rempelt die Birken. Die zwei Passagiere dieser Fuhre klammern sich an die Kufenkiste und kreischen immer noch, während das Tempo erstmal gesteigert wird. In Freizeitparks müssen für Millionensummen riesige Achterbahnen gebaut werden, wo die Menschen stundenlang Schlange stehen, um endlich einmal vergleichbar zu kreischen und ähnliches Wohlempfinden zu genießen. Jussu schafft das für ein paar Kilo Trockenfutter als Gegenleistung.
    Die touristische Seite des Rentierzüchter-Jobs ist für Pertti und seine Zunftkollegen rund um Rovaniemi angenehm unkompliziert. Fast alle öffnen ihre Höfe für Fremde. Sie können so schnelles – dringend benötigtes – Geld fast nebenbei erwirtschaften. Der rundliche Pertti liebt es obendrein, sich Winterurlaubern in seiner traditionellen Kluft zu zeigen und von dem Beruf zu erzählen, den er bereits von seinem Vater geerbt hat.
    Jussu rast, als hinge das wirtschaftliche Überleben der Rentierfarm einzig von seinem Tempo ab. Nicht nur, dass der Schlitten in jeder neuen Kurve endgültig aus der Bahn fliegen könnte, auch die angekarrten Bäume lassen vor Schreck erstmal ihre Schneehauben in die Schlittenwanne krachen, was kurzzeitig den Blickkontakt zur Rückseite des Rentiers vernebelt.
    Glücklicherweise ist Jussu an diesem Tag schon ein paar Mal routinemäßig Amok gelaufen, so dass das Tempo sich nach achthundert Metern deutlich mäßigt. Die Kondition lässt nach. Die Geschwindigkeit wird erträglich – so wie auf der Achterbahn, wenn man den dritten Looping hinter sich gelassen hat und die letzten paar Schleifen nur noch eingebaut sind, damit die Fahrt nicht gleich wieder zu Ende ist.
    Irgendwann ist der Ausgangspunkt der Tour über den Rundkurs erreicht. Pertti springt dem Bock in den Weg, greift nach dem Zügel, stoppt das Tier, das gerade beschlossen hatte, durchzustarten und nach sonstwohin weiterzutraben.
    Gemächlich klopft der Mann in der Rot und Blau abgesetzten Traditionskluft der Samen das brave Tier, löst den Schlitten, bindet Jussu wieder abseits an einer Birke fest und ist zufrieden: alle heil zurück.
    Nie darf man einen Züchter fragen, wieviele Tiere er besitzt. Das ist höchstes Betriebsgeheimnis – sein Erspartes quasi. Pertti startete am Lagerfeuer die Gegenfrage: »Sag erst, wieviel du auf dem Konto hast!« Die Antwort verblüffte ihn nicht mal: »Nichts, im Moment keinen Pfennig.« »Siehst du«, antwortete er, »und ich habe kein einziges Rentier.«
    Was mag er dem Wildnis-Rotnasenrudi in dem Lehrjahr beigebracht haben? Vielleicht doch Mathematik. Oder Lesen. Nichts, das ist die Erkenntnis der Rennrunde, was irgendwie mit herkömmlicher Schlittenfahrtradition zu tun hat. Kollege Pony zu Hause auf dem Reiterhof ist einfacher zu handhaben, dafür vielleicht nicht ganz so temperamentvoll. Aber schön war’s. Im Nachhinein jedenfalls. Und sehr naturverbunden – denkt man, wenn man sich den Birkenschnee langsam aus der Kapuze klopft. Was bleibt? Mehr Respekt vorm Weihnachtsmann, dem alten Teufelskerl. Wenn der sich so über den Himmel scheppern lässt und trotzdem an jedem Schornstein noch bei klarem Verstand ist, die richtigen Geschenke in den Schlot schleudert und anschließend an der Haustür beim Fotostopp gütig lächelt, dann muss er eine Superkondition und viel Geduld haben. Alle Achtung.

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